Soziale Intelligenz

Aus dem fiktiven Interview: „Die Weltformel„:

„Kennen Sie den Satz, den Brecht seinem Galilei in den Mund legt: „Traurig ein Land, das Helden nötig hat“? Ich habe eine eigene Lesart dieses Diktums. Sehen Sie, ob Wissenschaft, Kunst oder Handwerk: eine Disziplin ist doch erst dann hoch entwickelt, wenn man nicht mehr überdurchschnittlich sein muß, um darin etwas Verläßliches zu leisten, wenn auch ganz durchschnittliche Menschen darin Meister werden können. An eine Kultur stelle ich den gleichen Anspruch: Eine Kultur ist erst in dem Maße hochentwickelt, wie es keiner besonderen Anstrengung mehr bedarf, moralisch zu handeln. „Soziale Intelligenz“ heißt, daß man in jeder Situation schnell erkennen kann, wie sehr eine Verletzung der Gebote von Solidarität und Kooperation Implikationen eigener Intentionen widerspricht und daß man so geübt darin ist, den eigenen Antrieben einen Weg zu finden, der mit Solidarität und Kooperation vereinbar ist, daß man einfach nicht mehr darauf angewiesen ist, sie auf Kosten von anderen Menschen auszuleben. – Genauso, wie man heute kein Genie wie Bacon oder Boyle mehr sein muß, um naturwissenschaftlich zu denken, wird man irgendwann kein Heiliger mehr sein müssen, um moralisch zu handeln, weil soziale Intelligenz genauso selbstverständlich geworden ist, wie heute die naturwissenschaftliche Intelligenz, die die Kinder bei uns schon mit dem bloßen Heranwachsen üben“.

Aus Lars Lehmann: „Die Revolte„:

„Ihre Zivilisation hat ein Problem: Sie kann schlecht verzichten! Selbst für Menschen, denen es gut geht, fühlt sich Verzicht oft so unzumutbar an, daß sie glauben, ruhig etwas Unrechtes oder Schädliches tun zu dürfen, um nicht verzichten zu müssen. Anstatt die Bestände ihres Lebens auf ungenutzte Möglichkeiten zu sichten, werden sie aggressiv gegen Menschen oder Umwelt, um sich neue Bestände einzuverleiben. Die Menschheit ist noch auf der Kulturstufe, daß sie zwanghaft jeden Schatz heben muß, egal was dadurch angerichtet wird. Eine hochstehende Zivilisation kann die versunkenen Schätze im See lassen. Auf Euren entgeisterten Hinweis: „Aber da ist doch ein Schatz drin!“ würde sie achselzuckend sagen: „Na und?“ – Ihre Zivilisation hat noch nicht gelernt, die Frage zu stellen: „Auf was muß ich verzichten, wenn ich nicht verzichte!“ – Ihre Kultur ist zu einer Techniker-Kultur geworden. Aber was ist schon die Frage: „Wie kann ich das schaffen?“ gegen die Frage: „Wozu?“ Was hilft es, immer besser Probleme lösen zu können, wenn man immer weniger erkennt, was sich überhaupt lohnt, zum Problem zu machen?
Es wird bei der Reorganisation der Welt darum gehen, daß die Akteure erkennen, worauf sie verzichten können, ohne daß das Wesentliche ihrer berechtigten Ziele gefährdet ist. Ihr Blick ist auf die Perspektive fixiert, aus der sie ihr Ziel sehen, sie erkennen nicht, daß das gleiche Ziel aus einer anderen Perspektive eine völlig andere Gestalt annehmen kann. Nehmen Sie folgendes Beispiel: Da möchte jemand an einem Sommerabend auf seinem Balkon grillen. Nun weiß er, er belästigt damit die Nachbarn. Eigentlich könnte er auch ganz gut ohne Grill den Abend genießen. Doch dann denkt er: „Wer wäre ich eigentlich und was bliebe von meinem Leben übrig, wenn ich immer Rücksicht nähme!“ Er glaubt, durch eine gewisse Rücksichtslosigkeit erreicht er seine Ziele besser. Durch Verzicht sieht er Stolz, Autonomie und Lebensqualität gefährdet. Ein gutes Verhältnis zu den Nachbarn macht auf eine ganz andere Weise stolz und autonom und verbessert die Lebensqualität. Doch das sieht er nicht. – Akteure mit Unwillen zu Verzicht sind wie jemand, der glaubt: Wasser ätzt, und er schlägt einen Steg über einen seichten Fluß, statt einfach hindurch zu waten. – Allerdings: Um auf Möglichkeiten zu verzichten, muß man genau wissen, wozu. Beschränkte Menschen sind alternativlos, die wissen das nicht.“  –

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