Der Unwille zur Macht

Stichworte zur Demokratie

 

1 Pressetrug und  Denkfaulheit

Eine Oma wird brutal geschubst und ihr die Handtasche entrissen. Wer das  in der Zeitung liest denkt: „Ja wo leben wir denn!“ Das Abweichende erregt Aufmerksamkeit. Das führt leicht zur Fehleinschätzung des Normalen. Von eh und je ist z.B. der Unterschied zwischen der „gefühlten“ Kriminalität und der tatsächlichen riesig. Solche Trugbilder entstehen unintendiert, allein aus der Suggestivität des Hervorhebens.

Ironischerweise sind die Pegidaleute bezüglich des Islam solchem Trug  auf den Leim gegangen, und mit ihrer Verschwörungstheorie von der Lügenpresse werfen sie die Leiter um, mit der sie sich verstiegen haben.

Wenn mit zunehmender Konkretisierung des Handlungsbedarfs die Skepsis gegen die Flüchtlingspolitik wächst, geht das ebenfalls auf das Konto der Suggestivität des Hervorhebens: man schaut auf das, was noch nicht da ist und nicht auf das, was herangeschafft werden kann.

Wir Bürger sind intelligent genug, solche Trugbilder zu durchschauen. Intelligenz ist nicht das Problem. Dennoch wird fast nur verzerrt und verzagt über das Problem der Aufnahme Geflüchteter geredet. Man nimmt sich keine Zeit, grundlegende Fragen zu stellen. Man spinnt, was die Öffentlichkeit gerade vorgibt, weiter, statt eins und eins zusammenzuzählen, und das, was in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt wird, mit der Lebenserfahrung abzugleichen.

So wußte doch z.B. jeder, daß in Deutschland weit mehr Menschen durch alkoholisierte Kraftfahrer als durch islamische Terroristen gefährdet sind (2014: 260 Tote und über 17.000 Verletzte durch Alkohol am Steuer in Deutschland). Dennoch wurde nur über Antiterrorgesetze diskutiert, nicht über Verbesserungen im Straßenverkehr. Das ist ein Schildbürgerstreich: Man geht auf die Jagd nach seltenen Giftspinnen statt die menschenfressenden Wölfe zu erledigen, die ständig durchs Dorf traben… (Schildbürgerpreis für die FAZ).

(Nachtrag 24.02.2016: Die Zahl der Verkehrstoten steigt. Die Untersuchungen zum Händigebrauch am Steuer legen nahe, daß der Anstieg der Verkehrstoten mit der Händinutzung zu tun hat. Der Verkehrsminister sieht jedoch davon ab, Händinutzung am Steuer stärker zu bestrafen. (Quelle: Süddt.Zeitung 24.02.2016.)

Das zeigt: Den Politikern geht es nicht darum, Leben zu retten, sondern Stimmen zu kriegen. Ein Politiker, der die Händinutzung am Steuer stärker bestrafen will, muß fürchten, unpopulär zu werden. Ein Politiker, der nach einem Amoklauf nicht die bürgerlichen Grundrechte durch fragwürdige Überwachungssteigerung untergräbt, muß beim nächsten Amoklauf befürchten, von der Bildzeitung abgestraft zu werden, er hätte nichts unternommen. Daher der Schildbürgerstreich, für zweifelhafte Sicherheitsmaßnahmen das Grundgesetz zu unterminieren, aber die Straßenverkehrsordnung nicht anzutasten, egal, wie viele Menschenleben dadurch zu retten wären.

Dennoch sind die Politiker keine Schildbürger sondern völlig in Ordnung. Das Problem ist: wenn sie sich nicht schildbürgerhaft verhalten, sind sie bald nicht mehr Politiker… (s.u.Pkt.2 und 3). Diese Unvollkommenheit unseres demokratischen Systems spricht nicht gegen es. Vielmehr fordert es uns Bürger auf, uns mehr für unsere Demokratie zu engagieren (s. Pkt. 7).)

Von mündigen Bürgern könnte man eigentlich erwarten, daß sie die Verzerrungseffekte der Presserezeption herausrechnen können. Das wäre mündig: Mitreden, nicht Mitschreien. Aber offenbar werden nur die Gedanken gedacht, die durch die Aufmerksamkeitserregung angestoßen wurden. Weiter folgt man seiner Intelligenz nicht sondern läßt sich stattdessen einnehmen vom Tagesgeschäft.

Unsere Kultur krankt an einer tief verwurzelten Besinnungsfaulheit, an Alltagsaktivismus, Vordergründigkeit und Konformität.

 

2 Politik zwischen infantilen Bürgern und mobbender Presse

Wenn die Politiker nach den Anschlägen von Paris wieder fordern, es müsse mehr überwacht werden, dann ist das verlogen. Wenn sie sich für den Schutz des Lebens engagieren wollen, dann sollten sie Straßenverkehr und Gesundheitssystem verbessern und nicht die bürgerlichen Grundrechte aushebeln für Maßnahmen, die gegen Amokläufer eh nichts bringen.

Doch wir sollten die Politiker auch verstehen: So verlogen zu sein ist notwendig, um als Politiker bestehen zu können. Es ist kein moralischer Fehler der Politiker sondern eine Unausgegorenheit unseres politisch-gesellschaftlichen Lebens. Es hat Pubertätsniveau: Jeder ist auf der Lauer nach etwas, womit er andere diskreditieren kann, um Aufmerksamkeit zu bekommen und selber als überlegen da zu stehen. – Pennälermobbing. – Die Bourlevartpresse versucht ständig, Politiker als unfähig oder karrieregeil bloßzustellen und jede Vereinfachung und Verzerrung der Realität ist ihr dafür recht. Sie reiten auf Nebensächlichkeiten herum und wenn ein Politiker das klarzustellen versucht, heißt es: er wolle bloß kneifen.

Das funktioniert natürlich nur bei einer Bürgerschaft, die beschränkt ist von einer infantilen Anspruchshaltung gegen die Politik wie die kleiner Kinder gegen ihre Eltern: Wir sind unterschwellig ständig sauer auf die Politiker, weil wir nicht kriegen, was wir haben wollen, aber wir sind weder bereit, zu recherchieren, was geht und was nicht geht, noch, uns politisch zu engagieren. – Die regulären Einspruchsmöglichkeiten gegen Stuttgart 21 wurden so gut wie nicht genutzt. Kaum jemand hat sich drum gekümmert, solange noch keine Bagger zu sehen waren. Die Wut kam mit den Baggern. – Wir Bürger kennen oder nutzen unsere Demokratie offenbar nicht.

Das ist zu einfach: Jahrelang die Politiker machen lassen und nichts unternehmen, und wenn dann nicht das rauskommt, was man gerne hätte, an Demokratie, Rechtsstaat und Medien zweifeln und in Verschwörungstheorien und Verlogenheitsvorwürfen schwelgen, die von Demagogen bedient werden.

Politiker müssen lügen. Politik ohne strategisches Lügen ist unmöglich, und kein Politiker lügt infamer, als der, der anderen Politikern Lügen vorwirft. – Schon einmal ist ein Heini in Deutschland an die Macht gekommen, weil er der etablierten Politik Lügen vorwarf. Nie hat Deutschland lauter gejubelt und nie ist es schlimmer verschaukelt worden…

„Den Teufel spürt das Völkchen nie, und wenn er sie am Kragen hätt!“ (Mephistopheles).

 

3 Politiker haben’s nicht leicht

Wir Bürger können nicht wissen, ob ein ärgerliches Ergebnis der Politik wirklich Ergebnis ärgerlicher Politik ist. Dafür müßten wir die Sachzwänge kennen. – Die Politiker brauchen nicht unser Gemecker sondern unsere Unterstützung: Politiker müssen in einem extrem komplexen Konfliktfeld Kompromisse finden: Sie wollen verantwortungsvolle Politik machen, d.h. der Sache gerecht werden; sie dürfen die innen- und außenpolitisch mächtigen und einflußreichen Interessengruppen nicht gegen sich aufbringen; sie müssen die Wahlen gewinnen, d.h. bildzeitungskompatible Politik machen und sie müssen auf Nebenbuhler achten, die sie vom Thron stürzen wollen. – Es ist unlogisch, zu verlangen, daß Politiker nicht Kompromisse machen für ihre Strategien, Nebenbuhler zu übertrumpfen und Wahlen zu gewinnen. Das gehört zu unserer Demokratie dazu. Und es ist nicht ausgeschlossen, daß ein Politiker, dem es nur um Macht geht, dennoch gesellschaftlich und historisch bessere Politik macht als ein Idealist. – Und generell gilt: eine Demokratie muß so wach sein, daß sie nicht auf Heilige angewiesen ist.

 

4 Wir sind das Volk

Demokratie basiert auf dem Korrektiv der Bürger. Alle vier Jahre ein Kreuzchen zu machen, ist nicht sehr korrektiv. Es ist notwendig, daß wir Bürger uns mehr politisch engagieren. Die Politiker müssen besser über die Fragen und Anliegen der Bürger informiert sein. Es reicht nicht, daß sie wissen, was uns Bürgern wichtig ist, sondern sie müssen auch wissen, wie wichtig es uns ist, oder wie inakzeptabel und unzumutbar wir etwas finden. – Die Bedeutung dieses „Wie“ wird meist unterschätzt: Daß die Gattin es nicht toll findet, wenn er regelmäßig besoffen nach Hause kommt, weiß der Gatte selbst. Aber er täuscht sich meist darüber, wie schlimm es für sie ist: das merkt er erst, wenn er Post vom Scheidungsanwalt bekommt.

Was haben wir getan für eine Umweltpolitik, die radikaler gegensteuert gegen den Klimawandel? Was haben wir ihr getan gegen eine Exportpolitik, die die Landwirtschaft in Afrika kaputmacht? Oder gegen die Überfischung der Weltmeere, die traditionellen Fischern die Lebensgrundlage raubt? – Weil wir nicht längst gegen die Ursachen der Übel auf die Straße gegangen sind, sind wir, die Bürger aus den Reichen Ländern, mit schuld daran, daß immer mehr Menschen nur die Wahl haben zwischen Flucht und Tod.

Und was haben wir getan, um unsere Politiker bei der Regulierung der Finanzmärkte zu unterstützen? Da hätten wir Bürger unseren Vertreten den Rücken stärken können! Dann hätten sie vielleicht die Versuche der Banken, sich gegen Regulierungen zu wehren, mit der Frage kontern können: „Und wie wollt ihr das den Bürgern beibringen, daß ihr schon wieder Freibriefe haben wollt für Zockereien, bei denen ihr nur gewinnen könnt, weil ihr uns das Geld aus der Tasche zieht oder die Spielschulden aufbürdet?“

Eine klare Ansage hätten selbst die Bänker begrüßt. Es gehört zu jedem Job dazu, Fünfe gerade sein zu lassen und Einfluß zu nehmen, um die besten Bedingungen für’s Geschäft rauszuholen. Die Bänker verlassen sich darauf, daß sie so eingegrenzt werden, daß ihre Machenschaften keinen nennenswerten Schaden anrichten können.

Wollen wir wetten: Würde die Welt wegen der Machenschaften der Bänker zugrunde gehen, würden die Bänker uns Bürgern und den von uns gewählten Politikern vorwerfen, sie, die Bänker, nicht genügend gezügelt sondern viel zu viel zugestanden zu haben. Uns Bürgern würden sie vorwerfen, wir hätten uns nicht genügend interessiert, und unseren Politikern, sie hätten zu schnell klein bei gegeben. Wir Menschen bleiben nun mal wie Kinder: Wir krähen, wenn die Eltern uns einschränken, aber wir krähen noch mehr, wenn wir zu Schaden kommen, weil die Eltern uns zu wenig eingeschränkt haben. Dann werfen wir ihnen vor: „Ihr seid doch die Großen, ihr hättet es doch besser wissen müssen!“

Nachtrag: Die Wirtschaftprüfungsgesellschaften, deren Versagen 2008 maßgeblich für die Finanzkrise mitverantwortlich war, sollten per Gesetz reformiert werden. Das Gesetz ist durch, sein Nutzen mau. (Quelle: Spiegel 11/2016, S. 72: „Ungezügelte Macht“.) Es wurde in der Öffentlichkeit so gut wie gar nicht diskutiert. Kaum ein Bürger nahm und nimmt Notiz davon. Hätten wir Bürger hier so ein Geschrei gemacht, wie jetzt gegen die Flüchtlingspolitik, hätten wir den Politikern den Rücken gestärkt für einen weniger faulen Kompromiß.

 

5 Warum wir kriegen, was keiner will

Es gibt eine Eigendynamik in demokratischen politischen Systemen, die dazu führt, daß Entscheidungen durchgesetzt werden, die eigentlich niemand wirklich will. – Jede Lobbygruppe versucht ihre Interessen durchzusetzen – berechtigerweise. – Und Politiker paktieren mit Lobbys, um an der Macht zu bleiben – und auch dagegen ist nichts einzuwenden, das gehört dazu (s.o. Pkt. 3). – Und Politiker richten sich nach den Medien, um sich zu profilieren, und auch das hat seine Berechtigung. – Doch was kommt dabei heraus?

Z.B.: daß die Grundlagen für einen orwellschen Überwachungsstaat geschaffen werden, um der Bildzeitung zu zeigen, daß man genug dafür tut, den Bürgern die Angst vor Terroristen zu nehmen, eine Gefahr, die ohne die Verzerrung durch die mediale Aufmerksamkeit eigentlich weit weniger beängstigend wäre, als der Straßenverkehr vor der eigenen Haustür und die hygienischen Verhältnisse in unseren Krankenhäusern – und vor allem weit weniger beängstigend als die Sicherheitsmaßnahmen, die dagegen ergriffen werden…

Ein weiteres Beispiel: Die Regierung weiß genau, daß sie das Geld für die Kinder in den Ausbau von Schul- und Kitaangeboten stecken müßte, die den benachteiligtsten Kindern zu gute kommen. – Stattdessen verbrät sie das Geld um den Kinderfreibetrag anzuheben – das kommt nur denen zu Gute, die ohnehin gut integriert sind und Chancen auf „soziale Mobilität“ haben.

Stellen Sie sich vor, Ihr Kind spielt mit anderen auf dem Spielplatz. Jetzt kaufen Sie Ihrem Kind ein Eis. Die Eltern der andern Kinder haben kein Geld für Eis, sie müssen sparen. Die Kinder, die mit Ihrem Kind gespielt haben, drängen sich um den Eisstand. Sagen Sie dann: „Tja, wer kein Geld hat, kann sich auch nichts kaufen, so ist das nunmal!“ – Aber genau das suggeriert die Entscheidung der Regierung! –  Wollen wir wirklich ein Volk von solchen Tölpeln sein? Die Politiker finden die Entscheidung nicht toll, die Wähler auch nicht. Und dennoch wurde sie getroffen. –

(Link: https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-134878987.html)

 

6 Was uns eint

„Es gibt nicht die Politiker. Es gibt nicht die Bürger. Es gibt nur Interessen“, schrieb mir ein Leser. – So unterschiedlich die Interessenlagen der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen auch sind: Es gibt starke Gemeinsamkeiten:

  • Wir wollen keine frühkapitalistischen Verhältnisse, nirgendwo auf der Welt. Es soll niemand im Elend leben. Niemand kann seinen Wohlstand genießen, wenn Kinder dafür geschunden werden oder in Armut umkommen. Das Märchen von dem Mädchen mit den Streichhölzern soll nirgendwo und nie wieder etwas anderes als ein Märchen sein. (Es ist aber kein Märchen sondern ein Schock: spiegel.de/spiegel/print. Dazu auch D.Seefelds Kurzgeschichte „Mozart“ in „Splitter“.)
  • Wir wollen kein Tschernobyl, kein Seveso, kein Bopahl und kein Atlantis, nirgendwo auf der Welt. Aber vor allem: kein Auschwitz vor den Toren Europas.
  • Und von den öffentlich-rechtlichen Medien, „unseren“ Medien, wollen wir Information statt Infotainment und Qualitätsquote statt Quotenqualität (vgl. „Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage„).

Wenn wir das alles wollen, dann müssen wir den Politikern sagen, daß wir den Afrikanern nicht die Fische wegfischen wollen mit unseren hochgerüsteten Flotten und daß wir ihre Preise nicht mit unserer Massentierhaltung kaputt machen wollen.

Wir müssen unseren Politikern klarmachen, daß wir lieber den Ausbau von Kita- und Schulangeboten wollen, als Steuerfreibeträge für Kinder, die bloß denen zu Gute kommen, denen es sowieso schon gut geht.

Wir müssen ihnen sagen, was wir von ihren Überwachungsplänen halten, wir müssen ihnen sagen, daß wir uns mit einem Grundrecht auf Unsicherheit weit sicherer fühlen als mit dem totalen Krieg gegen vereinzelte Amokläufer.

Es geht nicht um mehr Gerechtigkeit, es geht um die Verminderung der Ungleichheit. Ungleichheit kostet. Belegt ist: Je mehr Ungleichheit in einem Land herrscht, desto mehr Ausgaben für Polizei, Justiz, Gefängnisse, Gesundheit, und Verwaltung von Armut und Not. Da ist die Einbuße von Lebensqualität noch gar nicht gerechnet: Es herrscht mehr Mißtrauen zwischen den Bürgern, eine größere Furcht vor Kriminalität, das Gesicht der Städte wird häßlicher. (In Berlin z.B. sind seit Jahren einige der schönsten Spreeuferwege abgesperrt. Seit eine CDU-Regierung mit Umverteilungstricks die Stadtkassen in die Taschen der Reichen gelehrt hat, fehlt der Stadt das Geld für die Sanierung. – Und für Polizei übrigens auch. Dabei will die CDU immer damit punkten, mehr für die Sicherheit zu tun als andere. (Link: Berliner Bankenskandal))

Warum wird nicht einfach mal definiert, wie die öffentlichen Einrichtungen ausgestattet sein sollen, und dann geschaut, wer davon was bezahlt? Wer ist auf die Idee gekommen, daß ausgerechnet der Staat sparen muß? Ist doch klar, daß die Ausstattung unseres Landes dann immer ärmlicher wird!

Nachtrag: Der „Spiegel“ referriert Experten der Großbank Morgan Stanley: „Werde die Kluft zwischen Oben und Unten zu groß… könne dies die soziale und wirtschaftliche Substanz eines Landes zersetzen.“ Der Präsident des Deutschen Institutes für Wirtschaftsforschung Fratzscher meint: „… Die Wirtschaftsleistung der Bundesrepublik hätte um ein Fünftel höher liegen können, wenn die Spaltung zwischen Arm und reich nicht so weit vorangeschritten wäre“ (Quelle: Spiegel, Titelthema 12.03.16.)

Wer sagts den Reichen:
Ungleichheit kostet und zieht euch das Geld aus der Tasche.
Ein Cent für mehr Gleichheit bringt Euros hervor. Kaum eine Aktie kennt solche Rendite.

 

7 Bürgerrat?

Es herrscht der Anspruch, daß die Politiker es richtig machen müssen ohne daß die Bürger etwas dafür zu tun brauchen. Aber das ist ein Anspruch, den wir nur einmal im Leben berechtigt haben können: der Anspruch kleiner Kinder gegen ihre Eltern. Wo die Politik versagt, haben auch wir Bürger versagt.

Die Straßenverkehrsordnung traut sich kein Politiker anzutasten, selbst die Grünen nicht. Das ist zwar ein schlechtes Beispiel, weil deshalb jährlich mehr Menschen sterben als durch Terrorismus in Jahrzehnten zu erwarten ist, aber es zeigt, welche Macht wir Bürger haben. – Deshalb sind wir z.B. auch selber schuld, daß wir uns so einen „öffentlich-rechtlichen-Rundfunk“ aufs Auge drücken lassen.

Wir müssen unseren Politikern helfen, den Kapitalismus zu zügeln! Der Kapitalismus ist nicht schlecht, aber ohne Zügel verrennt er sich, er hat kein Hirn. Und die Politiker alleine schaffens nicht. Wir müssen was unternehmen gegen das, was uns wirklich gefährdet. Wir müssen damit rechnen, daß unsere Demokratie ohne verändertes politisch-bürgerschaftliches Engagement sich nicht mehr selbst helfen kann gegen die realen Gefahren. Wenn wir unseren Politikern nicht helfen, ist es möglich, daß wir irgendwann terrorisiert werden von Sicherheitssystemen, die niemand gewollt hat. Und daß wir von einem zügellosen Kapitalismus abgemolken werden wie Milchvieh, angejocht wie Ochsen und dumm gehalten wie Zuchtfisch. Der Kapitalismus ist nicht böse, er weiß bloß nicht, was er tut. Daß die Massentierhaltung nicht auf die Menschen ausgedehnt werden darf: sowas muß der Kapitalismus gesagt kriegen! Und zwar deutlich! Sehr deutlich! – Aber dann läßt er sich auch leiten!

Wir Bürger brauchen keine Einigkeit im Wollen nur im Fragen. Wir sollten fragen, was Politik, Institutionen und Rechtsprechung dafür tun, die Glaubwürdigkeit von Demokratie und Rechtsstaat hoch zu halten. Und wir sollten herausstellen, was sie nicht dafür getan haben: wo Fragen nicht gestellt oder nicht kompromisslos genug gestellt wurden, wo Besitzstände nicht angetastet und „bequeme“ Entscheidungen getroffen wurden statt Entscheidungen, die in ihrer Zeit und an ihrem Ort unkonventionell und konflikthaft gewesen wären, deren historische Notwendigkeit aber zu diesem Zeitpunkt absehbar war.

Was spricht dagegen einen Bürgerrat zu gründen, eine überparteiliche Initiative von Bürgern, die bedeutend genug wird, um sich mit ihren Fragen und Dokumentationen in den Massenmedien Aufmerksamkeit zu verschaffen?

(Eine Geschichte zu diesem Themenkreis: „Die Revolte“ in: „Psychjatergarn„.)