(0) Notiz
Der Text von Habermas ist beispielhaft dafür, wie abstraktes Denken mit frappierender Plausibilität und Stringenz an der Wirklichkeit vorbei argumentieren kann und einer validierenden Konkretisierung bedarf.
(1) Exposition des Problems
Der Staat der modernen Industriegesellschaften sorgt dafür, daß im gesellschaftlichen Leben nichts geschieht, was hinter den Stand der universalistischen moralischen Standarts der bürgerlichen Gesellschaft zurückfällt. Die Bürger sollen vor den elementaren Existenzrisiken geschützt werden: Krankheit, Alter, Erwerbslosigkeit, unzureichendes Einkommen usw. Niemand soll Hungers sterben müssen, solange andere noch im Überfluß leben. (Ob das ein Ausdruck echter Solidarität ist, oder nur eine Vorkehrung zur Pazifierung des Klassenkonfliktes, sieht man dem geschriebenen Recht nicht an.) Wenn Bürokratie und Verwaltung in dieser Weise für die Bürger da sind, woher kommt dann die allenthalben viel beschworene Bürokratieverdrossenheit? Betrachten wir ein Beispiel:
Eine 33jährige alleinstehende Frau – nennen wir sie Frau Müller – bekommt ihren ersten psychotischen Schub, von dem sie sich nie wieder ganz erholt. Anfangs lebt sie weiterhin in ihrer Wohnung. Sie hat zwei Hunde, für die sie sorgen muß, wodurch ihr Tagesablauf strukturiert und ihre verbleibende Selbstständigkeit motiviert wird. Aber schon bald sind ihre finanziellen Rücklagen aufgebraucht und sie ist gänzlich auf´s Sozialamt angewiesen. Das Amt lehnt es ab, die Ernährung der Tiere zu finanzieren und erlegt ihr auf, sie in ein Heim zu geben. Sobald sie sich nicht mehr um die Tiere kümmern muß, bricht ihr bis dahin noch geregeltes Leben zusammen: sie hat keinerlei Verpflichtungen mehr und verwahrlost völlig. Schließlich wird sie über den sozialpsychiatrischen Dienst wieder in die Klinik eingewiesen und von dort aus in einer betreuten Einrichtung angesiedelt. – Abgesehen von der Sinnentleerung ihres Lebens, die die Wegnahme der Tiere für sie bedeutet und die fortan ihre Krisen verhäufigen und verschärfen, sind die Kosten, die dem Sozialamt jetzt entstehen um ein vielfaches höher, als das, was der Appetit von zwei Hunden hätte verzehren können.
Solche und ähnliche Beispiele sind es offenbar, die die Bürokratieverdrossenheit der Bürger nähren. Das Walten: das Planen, Berechnen, Etikettieren, Standardisieren, Operationalisieren von Bereichen menschlichen Lebens, dagegen wehrt sich etwas. Was ist dran an dieser Intuition? Ist in der Bürokratie und der von ihr vorangetriebenen Verrechtlichung sozialer Lebensbereiche zwangsläufig eine „strukturelle Gewalt“ angelegt, die die menschliche Wahrnehmung und Erfahrung präformiert und so zu „falschem Bewußtsein“, zu Entfremdung und Verdinglichung des Menschlichen führt? – Die in diesen Fragen artikulierte Intuition von der Paradoxie der bürokratischen Erfassung und Bearbeitung des Sozialen, versucht Jürgen Habermas in seinem Hauptwerk „Theorie des kommunikativen Handelns“ unter dem Stichwort „Kolonialisierung der Lebenswelt“ zu klären.
(2) Grundzüge der „Theorie des kommunikativen Handelns“
(2.1) Intention und Fragestellung
In seinem Werk „Theorie des kommunikativen Handelns“ (ich verweise darauf mit röm. Ziffer und Seitenzahl) versucht Habermas, die verschiedenen Ansätze der Soziologie: Marx, Weber, Durkheim, Mead, Parsons, die Kulturkritik von Lukács, Horkheimer und Adorno sowie Ergebnisse aus Ethnologie, Entwicklungspsychologie und Sprachphilosophie aufeinander zu beziehen, und eine großangelegte systematisierte Antwort zu finden auf die Frage der Gesellschaftstheorie: „WIE IST GESELLSCHAFT MÖGLICH?“ Dieser Frage liegt die Auffassung zugrunde, daß Gesellschaft nicht denkbar ist als die Summe von egozentrischen, nur ihren eigenen Interessen verpflichteten und nur ihren eigenen Nutzenkalkülen folgenden Individuen oder Kleingruppen, gewissermaßen als ein durch Rechtsinstitutionen gebändigter Krieg aller gegen alle (II 177, Durkheim-Zitat). Stattdessen wird postuliert, daß der Zusammenhalt einer Gesellschaft, die „soziale Integration“, nur möglich sei durch Solidarität. Zu fragen ist also, wie Solidarität in einer Gesellschaft entsteht, wie sie sich reproduziert, was die Reproduktion von Solidarität gefährden kann und wie sich ein Solidaritätsschwund in den gesellschaftlichen Lebensvollzügen bemerkbar macht.
(2.2) Was muß eine Gesellschaft leisten?
Jede Gesellschaft muß sich materiell und symbolisch („geistig“) reproduzieren.
Zum Verständnis von Struktur und Dynamik der materiellen Reproduktion greift Habermas auf das systemtheoretische Modell der Gesellschaft zurück, das versucht, den in den Naturwissenschaften entwickelten Systembegriff auf Gesellschaft zu übertragen. Kennzeichnend für das Systemmodell ist die „Subjektlosigkeit“: Die Systemsteuerung wird nicht geplant und gestaltet, sondern sie „ergibt“ sich, sie geht intentionsfrei hervor aus den tausendfachen Einzelaktionen der Elemente (Emergenz). Trotzdem ist, was sich ergibt, nicht zufällig: Systeme steuern sich gewissermaßen durch die Intentionen ihrer einzelnen Aktoren hindurch. Das beste Beispiel dafür ist der Markt: Jeder will bloß ein gutes Geschäft machen aber die „unsichtbare Hand“ sorgt dafür, daß es dadurch allen besser geht. – Konstitutiv für das „System“ fortgeschrittener Gesellschaften sind die Steuerungsmedien der Weisungsbefugnis (Macht) und des Güteraustausches (Geld) zur Vereinfachung und Optimierung der Funktionsabläufe. Die Entlastung, die durch sie herbeigeführt werden kann, entsteht daraus, daß Interaktionen abgekoppelt werden von Verständigungsprozessen, d.h. von dem risikoreichen und zeitaufwendigen Verfahren der Konsensfindung (II 269). (In bestimmten Situationen, z.B. auf einem leckgeschlagenen Schiff, kann es fatal sein, sich erst darüber einigen zu müssen, was als nächstes zu tun ist.) Durch diese „Implementierung“ von Steuerungsmedien entstehen Probleme zweiter Ordnung, gewissermaßen „nicht-natürliche“ Probleme, z.B. die Frage, nach welchen Verfahren am besten zu entscheiden ist, wie die Stellen in einer Hierarchie besetzt werden sollen. Sobald sich solche Regeln der Hierarchiebildung ausgebildet haben, können Diskrepanzen entstehen zwischen: der Sache gerecht werden und der Regel gerecht werden. Gute Studienleistungen z.B. verbürgen keinen guten Arzt oder Lehrer. Egal, wie die Curricula der Ausbildungsinstitutionen sich ändern: gut wird für die Institution immer nur heißen: was bei ihren Verfahren systemkonforme Ergebnisse erzielt. Inwieweit das in jedem Fall auch ein wirklichkeitstaugliches Ergebnis hervorbringt kann die Institution nicht erkennen. – Systeme können nicht anders, als nur sich selbst gerecht zu werden, ihren eigenen Maßstäben und Sollwerten. Diese „Egozentrik“ wirkt sich bereits in ihren „Wahrnehmungs“- und „Erkenntnis“-vorgängen aus:
Die gesetzliche Krankenversicherung z.B. verstand sich (nach Chr.v.Ferber 1967) bis Mitte der 60ziger Jahre in erster Linie als eine Institution mit Finanzierungsauftrag. Die Auswertung ihrer Informationen zum Zwecke der Gesundheitsfürsorge (Erarbeitung möglicher Vorsorge- und Verhütungsmaßnahmen) unterblieb (v.Ferber 138f). Es ging nur darum, den Zu- und Abfluß von finanziellen Mitteln zu regeln, d.h. ihr Anliegen war weniger die Gesundheit der Bevölkerung, als die Versorgung des medizinischen Personals. – Solange die Krankenkassen nicht in finanzielle Engpässe gerieten, war der Gesundheitszustand der Bevölkerung für sie kein Thema. Sie fingen erst an umzudenken, als die Kosten explodierten, ein Bedarf an Methoden der Kostensenkung entstand und die Aufwendungen für die Gesundheitsvorsorge als ein Mittel zur Kostensenkung begriffen werden konnte. Das gleiche Verhalten wurde plötzlich entgegengesetzt bewertet: Galt es bis dahin als empörend ansprüchlich, Mittel für Rückenschulung zu fordern, galt es auf einmal als vorbildlich engagiert – und in Zukunft müssen vielleicht diejenigen, die solche Mittel nicht abrufen, höhrere Beiträge bezahlen…
Wir können daran ablesen, wie Systeme „denken“. Systeme sind „autopoietisch“, d.h. sie sind blind: sie schaffen sich ihre Vorstellung davon, wie ihre Umwelt aussehen könnte, selbst, sie fingieren sie. Sie müssen mit diesen Vorstellungen nicht ihrer Umwelt, sondern nur sich selbst gerecht werden. Solange sie mit diesen Vorstellungen in ihrer materiellen Reproduktion gut zurecht kommen, läßt sie die Frage kalt, wie es „draußen“ wirklich aussieht. (Es ist bspw. ein Organismus denkbar, der nicht zwischen Feuer und Wasser unterscheiden kann, weil er beides gleichermaßen meiden muß und weil beides gleichermaßen unbrauchbar für seine Reproduktion ist.) Selbst wenn Probleme auftreten, die das System als Indikator für Reorganisationsnotwendigkeit einstuft, muß die Reorganisation nicht dazu führen, daß Bewältigungskompetenzen für die neu aufgetretenen Probleme entwickelt werden. Es kommt nur darauf an, daß das Problem für das System kein Problem mehr ist – auf welche Weise auch immer. Es kann reichen, daß das Problem nicht mehr wahrnehmbar ist oder daß es weginterpretiert oder bagatellisiert wird.
In der Sphäre der symbolischen Reproduktion (der Spähre des „Geistigen“) ist die „Lebenswelt“ beheimatet. Die Lebenswelt besteht – ganz an der Oberfläche – aus Wissen und Glaube (hier verstanden als Summe von Überzeugungen). Sie beziehen sich auf drei Bereiche: Welt, Gemeinschaft und eigenes Ich, und haben sich als hinreichend zutreffend oder konsensbildend herausgestellt, um den Akteuren die zum Handeln notwendige Gewißheit geben zu können von der Verlässlichkeit und Gestaltbarkeit der Dinge, Strukturen und Vorgänge in ihrer objektiven, sozialen und subjektiven Welt. (Handlungsentscheidungen werden völlig anders ausfallen, je nachdem, ob ein Handelnder erwartet, daß er eine unsterbliche Seele hat, oder daß es als abgeschmackt gilt, ein notorisch fleißiger Mensch zu sein, oder daß es Ärger einbringt, den Chef auch am Morgen nach dem gemeinsamen Saufgelage noch zu duzen.) Die Erzeugung und Erhaltung dieser kollektiven Gewißheiten nennt Habermas: „symbolische Reproduktion“. Sie vollzieht sich durch kommunikatives Handeln. Kommunikatives Handeln konstituiert sich durch hinreichend herrschaftsfreie Verständigungsprozesse, d.h. Prozesse, in denen alle Teilnehmer die gleichen Rechte hatten, zu behaupten, zu fragen, zu zweifeln, u.s.w., in denen also nur der „eigentümlich zwanglose Zwang des besseren Arguments“ herrschte, statt daß Beiträge unterdrückt, belohnt oder erzwungen wurden. In hinreichend herrschaftsfreien Verständigungsprozessen werden nicht nur die Geltungsansprüche der lebensweltlichen Hintergrundüberzeugungen getestet, sondern auch die Solidarität der Angehörigen und die Identität der vergesellschafteten Individuen (II 211). (Indem eine Gruppe von Menschen gemeinsam Probleme bewältigt (Handlungsbedarf und -möglichkeiten erkundet, Pläne aufstellt, Lösungen entwickelt), werden die besonderen Fähigkeiten und Stärken eines jeden Teilnehmers offenbar und damit seine Bedeutung für die Gruppe. Daraus entwickelt sich gleichzeitig die soziale Integration und die Identität eines jeden einzelnen (als jemand, der etwas Bestimmtes für das Gruppenleben beiträgt und dessen Zugehörigkeit die Gruppe wichtig findet).)
Habermas Grundgedanke ist nun, daß es im Verlauf der symbolischen Reproduktion in dem Maße zu Störungen kommt, in dem die sprachlichen Interaktionen nicht mehr über das Prinzip der besseren Argumente abgewickelt werden, sondern über Macht und Kauf, wie z.B. mehr oder weniger subtile Formen von Bestechung, Bedrohung, Belohnung, Bestrafung usw. Es kommt dann früher oder später zu Krisen: wir können auf Dauer nicht an Ideen und Werte glauben, deren kulturelle Dominanz nicht auf kommunikativem Aushandeln beruht, d.h. für die keine überzeugenden Gründe angeführt werden können und. deren Überzeugungskraft nicht diskutiert werden darf. Fehlen dann verbindende neue Ideen und Werte, kommt es zu einer fortschreitenden Erosion des gesellschaftlichen Zusammenhalts.
(Entsolidarisierungseffekte zeigen sich an den Stellen, an denen die Mitglieder einer Gemeinschaft gegenseitig auf Vertrauen, Selbstkontrolle und Zurückhaltung angewiesen sind. Sinnenfälligstes Beispiel der gegenwärtigen Entsolidarisierungsprozesse sind die Graffities, die allerorts an den Hauswänden prangen. In den meisten Fällen handelt es sich dabei nicht um politisch oder künstlerisch Intendiertes, sondern einfach um das archaische Bedürfnis sein Zeichen zu hinterlassen, wie die Urinmarke eines Hundes. Das hat es immer gegeben. Aber früher mußten sich hauptsächlich Bäume und Felsen Einritzungen von Ausflüglern, gefallen lassen. Das gesamte Stadtbild dafür zu benutzen hätte sich früher niemand herausgenommen. Es gab so etwas wie Zurückhaltung – allerdings muß dahingestellt bleiben, ob wirklich aus Achtung vor den Bedürfnissen der anderen oder nicht vielmehr wegen der Vorherrschaft des Syndroms des „autoritären Charakters“…)
Ausgehend von Max Webers Nachzeichnung der Genese der modernen abendländischen Rationalität kommt Habermas zu dem Ergebnis, daß ein solcher Erosionsprozeß durch ein „selektives Muster gesellschaftlicher Rationalisierung“ (I 325f) ins Werk gesetzt wurde, von einer Rationalisierung, die nur die kognitiv-instrumentelle Rationalität kennt, die sich auf alle Gegenstandsbereiche bezieht, die planbar, systematisierbar, operationalisierbar und mathematisierbar sind, d.h. auf die Gegenstandsbereiche der materiellen Reproduktion. Eine kommunikative Rationalität wurde dagegen nicht systematisch ausgebildet, geschweige denn institutionalisiert. (Das ist „logisch“, d.h. das historisch Wahrscheinlichere: von der instrumentellen Rationalität können unsere Interessen profitieren, sie ist politisch und ideologisch neutral. Die Entfaltung einer kommunikativen Rationalität würde dagegen bedeuten, sowohl eigene Interessenlagen als auch die eigene Ideologie immer wieder problematisieren und zur Disposititon stellen zu müssen. Instrumentelle Rationalität läßt sich ferner routinisieren und institutionalisieren, während der „herrschaftsfreie Diskurs“ sich immer wieder neu generieren, d.h. gegen Interessenlagen durchsetzen muß. Instrumentelle Rationalität ist mit weniger Angst und Unsicherheit verbunden, hat handgreiflichere Erfolge und wird nicht durch partikularistische Interessenlagen demotiviert.)
Habermas´ These ist, daß dieser einseitige Rationalisierungsprozeß und die damit verbundene immer größere Ausweitung und Hegemonie des „Systems“ der materiellen Reproduktion dazu geführt habe, daß der „fundamentale Vergesellschaftungsmechanismus sprachlicher Verständigung auf systemische Mechanismen umgepolt worden“ sei (II 462), d.h. daß die Interaktionen und Verständigungsprozesse, aus denen sich die Werte, die Solidarität und das Weltverständnis der Lebenswelt reproduzieren, immer weniger bestimmt werden durch die Verständigungsleistungen ihrer Angehörigen und immer mehr von den anonymen, eigengesetzlichen, mediengesteuerten Reglungsprozessen der materiellen Reproduktion. Darin sieht er eine Zersetzung der Eigengesetzlichkeit der symbolischen Reproduktion: ihre Unterwerfung und Ausbeutung durch das „System“. Dieses Geschehen macht er für die „Lebensweltpathologien“ verantwortlich, die seit gut anderthalb Jahrhunderten in Soziologie und Literatur immer genauer zu artikulieren und zu begreifen versucht werden. Die Verrechtlichung und Bürokratisierung ist dabei nur eine Form der Kolonialisierung. – Zur Illustration möchte ich kurz den gesellschaftskritischen Hintergrund in Erinnerung rufen, den Habermas bei seiner Argumentation im Sinn hat. Dafür möchte ich ad hoc fünf verschiedene Arten von kolonialisierungsspezifischen Entfremdungsmechanismen unterscheiden:
Suggestion: Das bekannteste und bereits gut dokumentierte Phänomen der Lebensweltkolonialisierung ist die Konsumgesellschaft: Die systemischen Zwänge einer kapitalistisch strukturierten materiellen Reproduktion nutzen menschliche Bedürfnisse aus, indem sie sie werbetechnisch in Schlüsselreize umsetzen und zur Stimulation der Nachfrage umfunktionalisieren, z.B. Geltungsbedürfnisse (vor allem hinsichtlich sexueller Konkurrenzfähigkeit); Gesundheits- und Sauberkeitsbedürfnisse; die Dynamik der Rudelbildung von Halbwüchsigen („Peergroups“) und ihr entwicklungsnotwendiges Abgrenzungsbedürfnis von der Generation der Eltern; und schließlich diffuse Sehnsüchte und Wünsche wie die nach Einheit mit der Natur, Freiheit und Unabhängigkeit, ewiger Jugend usw. Diese Instrumentalisierung der menschlichen Bedürftigkeit zur Nachfragesteigerung wirkt als Manipulation auf die symbolische Reproduktion zurück, auf die Werte und Denkinhalte der Einzelnen. Hier wird die Möglichkeit der Kultur, in Prozessen selbstbestimmter Gestaltung neue Bedürfnisinterpretationen und Verhaltensweisen zu entwickeln, eingeschränkt, um nicht zu sagen stillgestellt. (Die Ambivalenz von Authentizität und marktinduzierter Affektivität läßt sich beispielhaft an Phänomenen wie der Rockmusik ablesen.)
Konditionierung: Durch die Zwänge der materiellen Reproduktion werden bestimmte Verhaltensweisen „belohnt“, andere „bestraft“. Neue Lebensformen, wie z.B. die Kleinfamilie, das ungebundene Singeldasein usw., entstehen auf diese Weise ohne daß irgendjemand sich dafür bewußt entschieden hätte, d.h. ohne daß sie Ergebnis einer bedürfnisinterpretierenden und wertgenerierenden Selbstbesinnung gewesen wären.
Reduktion: Bürokratisierungsprozesse, wie die des Kurzschließens des Bildungssystems mit dem Beschäftigungssystem (II 545) sind Vorgänge, die die Selbstgestaltung der symbolischen Reproduktion in erster Linie äußerlich hemmen: wenn z.B. in Schule und Studium die Kreativität der Lehrer und die Entfaltungsmöglichkeiten der Schüler stillgestellt werden durch ridige curriculare Bindungen und Regelstudienzeiten, die die „Lehrjahre“ um „Bildung“ im emphatischen Sinne beschneiden und zu einer aufs rein Technische reduzierten Version des jeweiligen Berufes verkürzen.
Durch Konditionierung und Reduktion kann es langfristig zu unintendierter Suggestionsbildung kommen: Wenn z.B. durch Reduktion das umfassendere und reflektierte Verständnis eines Berufes allmählich aus dem gesellschaftlichen Bewußtsein schwindet und die entsprechend differenziertere Berufspraxis verloren geht, suggerieren die so entstandenen gesellschaftlichen Lebensvollzüge, es gebe nichts sinn- und wertvolleres als die Sorge um den reibungslosen Ablauf des vorgefertigten Berufslebens und des entsprechenden erholungsdienlichen Freizeitausgleichs. Das Verständnis davon, was „Beruf“ und „Leben“ heißt, wandelt sich.
Konfusion: Die Mediatisierung kann aber auch unmittelbar in Verständigungsprozesse eingreifen und diese zersetzen. Das läßt sich an Beispiel der Tätigkeit eines Versicherungsvertreters veranschaulichen: Ein Versicherungsvertreter verdient sein Geld auf Provisionsbasis: er muß dafür sorgen, möglichst viele Kunden zu versichern. Mit Nettigkeit und Anzeichen von Redlichkeit erzeugt er das Vertrauen, das seine Kunden zum Geschäftsabschluß motivieren soll. (Bspw. kann er mit plausiblen Argumenten von bestimmten Versicherungen in seinem eigenen Sortiment abraten und wird dadurch als uneigennützig gelten.) Deshalb kann er nie sicher sein, ob seine Redlichkeit nicht in Wirklichkeit von ihm selbst instrumentalisiert und zur vertrauensbildenden und werbewirksamen Pose wird. (Da den Versicherungen ihre Sinnhaftigkeit nicht immer ins Gesicht geschrieben steht, wird er z.B. oft nicht wissen, bei welchen Verträgen es nun tatsächlich redlich wäre, zu- oder abzuraten.) Die Warenform erzeugt eine Befangenheit: die Anbieter können nicht mehr entscheiden, ob es ihnen um den Gebrauchswert oder den Tauschwert geht, ob sie zu dem Menschen, der ihnen als Kunde gegenübersteht, eine kooperative Einstellung haben oder eine erfolgsorientierte. Sie werden schließlich auch im privaten Bereich nicht mehr wissen, was an ihrem augenscheinlich redlichen und netten Verhalten Pose ist und was echt: sie haben ihre Redlichkeit prostituiert, sie sind von sich selbst entfremdet. Es wird extern belohnt, was seinem Sinn nach seinen Lohn ausschließlich in sich selber tragen muß.
(3) Die paradoxen Effekte der Bürokratie
Die Paradoxien der Bürokratisierung sieht Habermas in einer „Ambivalenz von Freiheitsverbürgung und Freiheitsentzug“ (II 531). Diese Effekte seien zwangsläufig mit der Verrechtlichung verbunden, d.h. „die negativen Effekte… stellen sich nicht als Nebenwirkungen ein, sie ergeben sich aus der Struktur der Verrechtlichung selber“ (ebd.). Die Entfremdungseffekte wären daher nicht Folge ungeschickter, unausgereifter oder ungerechter gesetzlicher Bestimmungen oder verwaltungstechnischer Verfahren sondern wären per se verbunden mit der bürokratischen Erfassung von Bereichen der Lebenswelt d.h. durch kein Dazulernen, durch keine Reformen der Bürokratie abzubauen oder zu vermeiden. Aus dem Text von Habermas lassen sich, soweit ich sehe, drei Formen von paradoxen Bürokratisierungsfolgen herauslesen:
(3.1) Paradoxien von Operationalisierung und Objektivierung
Die Institutionen der sozialen Sicherung versteht Habermas als eine „Verrechtlichung von Lebensrisiken“, die einen „bemerkenswerten Preis in Form von umstrukturierenden Eingriffen in die Lebenswelt der Berechtigten“ erfordere. „Diese Kosten entstehen durch den bürokra-tischen Vollzug und die monetäre Einlösung der sozialrechtlichen Ansprüche. Aus der Struktur des bürgerlichen Rechts ergibt sich die Notwendigkeit, die sozialstaatlichen Verbürgungen als individuelle Rechtsansprüche für genau spezifizierte allgemeine Tatbestände zu formulieren“ (II 531). Von dieser Spezifizierung gehe ein erheblicher Zwang zur „Umdefinition von Alltagssituationen“ aus (II 532): „Die regelungsbedürftige, in den Kontext einer Lebensgeschichte und einer konkreten Lebensform eingebettete Situation muß einer gewalttätigen Abstraktion unterworfen werden, nicht allein weil sie rechtlich subsumiert werden muß, sondern damit sie administrativ bearbeitet werden kann. Die leistenden Bürokratien müssen dabei stark selektiv verfahren und die sozialen Notlagen auswählen, die sich unter den rechtlich fingierten Ausgleichstatbeständen mit Mitteln einer legal verfahrenden bürokratischen Herrschaft überhaupt erfassen lassen“ (ebd.). Das führe zu belastenden Konsequenzen „für das Selbstverständnis des Betroffenen und für seine Beziehungen zum Ehepartner, zu Freunden, Nachbarn usw…“ (ebd.).
Wie können uns diese Ausführungen beim Verständnis von Frau Müllers Problem helfen? Frau Müller kann bei dem zuständigen Sachbearbeiter und dessen Vorgesetzten nicht auf der Basis einer gemeinsamen Definition des realen Problems etwas geltend machen, sondern nur auf rechtlicher Basis. Der lebensweltliche Modus, solidarische Hilfe abzurufen, indem man seine Notsituation und seine Befindlichkeit schildert, greift hier völlig ins Leere. Anstatt dessen muß man namhaft machen, was man von dem, was einem von Rechts wegen zusteht, nicht hat – denn was von dem realen Problem in die rechtlichen Bestimmungen nicht hineinpaßt wird vom Amt rücksichtslos ignoriert, völlig unabhängig davon, wie verständnisvoll die Beamten sind. Wir können von einer „Entmächtigung guter Gründe“ sprechen. Früher waren es (überpointiert ausgedrückt) mitleidige reiche Damen, die Armenspeisungen einrichteten. Heute ist die Wohlfahrt eine öffentliche Aufgabe, man will die Versorgung kalkulierbar machen: ob Bedürftige Unterstützung finden und inwieweit sie Unterstützung finden soll nicht mehr von den Größe des Herzens und der Geldbeutel wohlhabender Damen abhängig gemacht werden (Freiheitsverbürgung). Und die Kalkulierbarkeit der Versorgung kann nunmal nur gewährleistet werden durch die Kalkulierbarkeit der versorgungsleistenden Institutionen. Und für die Planbarkeit und Gerechtigkeit der Verteilung ist Operationalisierung und Objektivierung notwendig: die genaue Spezifizierung der Klientenansprüche (Definition von Notlagen, ihre Beobachtbarkeit und Begreifbarkeit für die Institution) und der Bedingungen, unter denen Menschen solche Notlagen entstehen (Meßbarkeit und Nachweisbarkeit der Notlagen). Die gesellschaftliche Solidarität ist an Formalismen delegiert worden – sie wird nicht mehr dezentral vollzogen an den Problemfronten selbst (in Nachbarschaft oder Dorfgemeinschaft). Das kann in Einzelfällen zu kontraproduktiven Effekten führen – aber wieso soll es zu Entfremdungserscheinungen führen, zu einer Zersetzung der symbolischen Reproduktion, zu Beschädigungen von Solidaritäten und Identitäten (Freiheitsentzug)?
Habermas beruft sich zur Stützung seiner These u.a. auf die Studie Ch.v.Ferbers. Ferber versuchte darin die „Borniertheit“ (v.Ferber 72) der sozialstaatlichen Institutionen dingfest zu machen: Die Art und Weise, wie den Institutionen die Abwicklung ihrer Aufgaben überlassen werde, müsse zwangsläufig zu „Fiktionen“ über die (soziale) Wirklichkeit führen und zu dem entsprechenden Verfehlen des tatsächlichen Bedarfs. Die sozialpolitischen Institutionen würden „nur die Begriffe des Rechts und der Volkswirtschaftslehre als Ereignis bewertende und Erfahrung konstituierende Schemata“ zulassen (v.Ferber 70). Dadurch würden die Grenzen der Aufnahmebereitschaft und Verarbeitungsfähigkeit für Existenzprobleme abgesteckt: die existentielle Lage von Personen könne nur nach rechtlichen und volkswirtschaftlichen Kriterien definiert werden. Das bedeute, „daß die Symbolsprache der sozialpolitischen Institutionen die soziale Notlage, die Hilfsbedürftigkeit zu einem Produkt der Sozialgesetzgebung machen, ja, daß der Anspruch auf gesellschaftliche Unterstützung mehr nach den juristisch geschaffenen Tatbeständen sich ausrichtet als nach den Bedürfnissen individueller Not.“ (v.Ferber 75). Alle nicht-monetären Quellen des sozial-ökonomischen Status würden vernachlässigt, mit der Konsequenz, daß die Sozialleistungen an der Lebensführung der Einzelnen vorbeigingen und die sozialpolitische Debatte systematisch zu Mißverständnissen führe (v.Ferber 19). Als Beispiel, an denen der Leistungsmangel der Verwaltungssprache sowie der verbleibenden Handlungsbedarf abgelesen werden können und an denen Anhaltspunkte für Veränderungen sichtbar werden untersucht v.Ferber u.a. die Altersversorgung: Die rein ökonomische Umdefinition des Alterns sei ein „fingierter“ Tatbestand, der zu einem „Auseinanderfallen von physischen Überlebenschancen und soziokultureller Zukunftsperspektive“ (v.Ferber 97ff) führe. Das Altern werde nicht als soziokultureller Prozeß verstanden, der sozialpolitisch beeinflußbar sei (v.Ferber 101), sondern als rein biologischer Prozeß begriffen. Selbst da, wo Alterungsprozesse von individuellem Verhalten abhingen (Rauchen, Überfütterung, Bewegungsarmut; v.Ferber 110f) würden die soziokulturellen Faktoren übersehen, die ein solches Verhalten wahrscheinlicher machten als ein weniger selbstdestruktives. Das habe zur Folge, daß das Alter schließlich als ein defizienter Modus verstanden würde, als ein „Nicht-Mehr“, ein „Vorbei“, eine Verschleißerscheinung, die zum Ausscheiden aus der Marktaktivität führe. – Zweifellos hat v.Ferber recht: Der Altersabbau ist auch abhängig vom Bestehen oder Nicht-Bestehen eines erlebbaren Lebenssinns in Form sozialer Kontakte und Ausrichtung der Existenz über das eigene Leben hinaus (Bedeutsamkeit für die, die einen überleben werden). Auch die Gleichsetzung mit beruflicher Leistung und produktiver Leistung überhaupt, wie es der Defizienzbegriff des Alters nahelegt, ist verfehlt (v.Ferber 105). (Darin zeigt sich deutlich das selektive Muster gesellschaftlicher Rationalisierung, der Primat der funktionalistischen Vernunft: am Menschen wird nur das wahrgenommen, was meßbar relevante Wirkungen für die materielle Reproduktion erbringt.) Aber worauf v.Ferber aufmerksam macht, ist grade nicht, daß der Rechtstatbestand der Berentung als Rechtstatbestand zwangsläufig zu den genannten oder anderen Entfremdungserscheinungen führen muß, und deshalb auch durch keine „Nachbesserung“ entpathogenisiert werden kann. Er betont vielmehr die sozialpolitische Beeinflußbarkeit der Alterungsprozesse einer Gesellschaft: Eine pathogene Umstrukturierung entstehe durch die Berentung nur, wenn die dadurch bewirkten Veränderungen durch keine komplementären sozialen Umstrukturierungen abgefangen würden. v.Ferber benennt kein Paradox sondern ein Defizit. – Wir sind aber auf der Suche nach pathogenen Effekten, die strukturell mit der Bürokratisierung verbunden sind, d.h. mit der Art der Veränderungen, die ein Lebensbereich durch Verrechtlichung erfährt, die also durch keine Reformen zu verhindern sind. Wir sind auf der Suche nach einem „malignen“ Sinne von Bürokratisierung. Gemäß der These von Habermas treten diese „malignen“ Effekte in Form von Störungen der Verständigungsprozesse auf. Dort haben wir danach zu suchen. –
Wir können Frau Müllers Fall unter die reduktionsbedingten unintendierten Suggestionseffekte subsumieren: als eine Beeinträchtigung, die über die bloße Veränderung der Lebensumstände hinausgeht, indem mit ihr symbolische Folgewirkungen verbunden sind. Der englische Wittgensteinschüler P.Winch prägte für die soziale Faktizität von Ideen den Begriff der „Innerlichkeit sozialer Beziehungen“ (Winch 1974). Er geht davon aus
… daß die sozialen Beziehungen zwischen Menschen und den in den Handlungen der Menschen verkörperten Ideen in Wahrheit dieselbe Sache seien…“ ( Winch 154). Winch bringt ein Beispiel aus einem sozialpädagogischen Standartwerk seiner Zeit: „…eine Sozialfürsorgerin sei verpflichtet, zu ihrem Klienten eine Freundschaftsbeziehung herzustellen, dürfe jedoch nie vergessen, daß sie in erster Linie gegenüber der Politik der Institution, bei der sie angestellt ist, eine Verpflichtung trage. Das ist nun aber eine Herabwürdigung des Begriffs der Freundschaft, wie er bisher verstanden worden ist und der diese Art geteilter Loyalität, um nicht zu sagen Doppelzüngigkeit ausschloß“ (Winch 156).
In einer Gesellschaft, in der das beschriebene Verhalten unter Freunden üblich würde, würde die Idee der Freundschaft sich wandeln und entweder würde gleichzeitig eine neue Idee d.h. ein neues Wort entstehen, dessen Bedeutung etwas von dem ehemaligen Charakter von Freundschaft bewahrte, oder es würde eine bestimmte Haltung, die Menschen gegeneinander einnehmen können, aussterben: „Freunde“ wären etwas ganz anderes, als ehedem darunter verstanden wurde. Zwischen Sprache und Verhalten besteht ein Zusammenhang: in einer Kultur kommt nur vor, was in ihrer Sprache vorkommt. Neues Verhalten, neuartige Bedürfnisinterpretationen sind immer auch Spracherneuerungen. Wir müssen daher davon ausgehen, daß die Art und Weise wie in den sozialpolitischen Debatten geredet wird – das Vokabular, daß sie entwickeln und das, was sie nicht entwickeln – auch auf das gesellschaftliche Vokabular zurückwirkt: Was für Frau Müller ein existentielles Problem ist, gilt ihren Nachbarn vermutlich nur als „Hobbie“ und es hätte sie empört, wenn sie erfahren hätten, daß ihre Steuergelder an Frau Müllers Hunde verfüttert werden. Das selektive Muster der gesellschaftlichen Rationalisierung führt zu einer Selektivität des Vokabulars für menschliche Notlagen und damit auch zu einer Verarmung („Selektivitätssteigerung“) sozialer Wahrnehmung und Beziehungen. Die Verständigung wird gestört durch semantische Löschungen in der Sprache, die gewissermaßen eine „Taubheit“ für bestimmte Bedeutungsnuancen bewirken. Die Folge davon sind mehr oder weniger subtile Formen von Ignoranz. (Verdeutlichen können wir uns die „Innerlichkeit sozialer Beziehungen“ auch an der Todesstrafe: welche Auffassung vom Wert des menschlichen Leben muß in einer Gesellschaft herrschen, die Menschen hinrichtet. Und was sind die Folgen, wenn nicht davor zurückgeschreckt wird, das Lebensrecht antastbar zu machen?)
Aber diese über v.Ferbers Argumentation hinausgehende allgemeine Kulturkritik bleibt unbefriedigend: Sie behandelt subtile gesellschaftlich-kulturelle Vorgänge und erzeugt nur Evidenzen, denen immer auch Evidenzen entgegengestellt werden können. So könnte unserer Analyse z.B. die These erwidert werden, daß es vielleicht verschiedene Diskurskontexte gebe, deren jeder seine eigene Sprache habe, so daß es sich nicht ausschließe, in dem einen als angemessene und akzeptale Beschränkung im Rahmen des Ressourcenmanagements zu thematisieren, was in dem anderen als konstitutiver Bestandteil des Lebenssinns gelte. Nachweise für gesellschaftliche Phänomene von Sprach- und Beziehungsverlust, die mit diskutablem Anspruch auf Objektivität auftreten könnten, sind kaum möglich: der traditionelle Begriff der Freundschaft z.B. müßte operationalisiert werden – etwa mit dem Parameter: Stabilität der Beziehung über längere Zeiten der Abwesenheit hinweg – und dann mit dem, was heute als Freundschaft praktiziert wird, verglichen werden. Und was hätten wir dann gewonnen? Wir hätten allenfalls eine Veränderung festgestellt, die von den einen als Verlust, von anderen als Wandel gewertet würde. – Das zeigt nur, wie wenig es hier – wie überhaupt – auf Überzeugungen ankommt. Sondern wir können die Überlegungen benutzen, um die Probleme konkreter Interaktionen besser zu verstehen: Frau Müller spürt, wie wichtig die Hunde für sie sind, und wie wichtig sie für die Hunde ist, und wie „unmenschlich“ aber auch wie schädlich es wäre, wenn ihr Bedürfnis, die Hunde zu halten, nicht akzeptiert wird. Und deshalb glaubt sie, bestimmte Ansprüche zu besitzen, weil ihr und den Tieren sonst Leid und Unrecht angetan würde. Aber von ihrer Familie wird sie deshalb für krank gehalten, weil ihrem Glauben im Sozialgesetzbuch nichts entspricht, d.h., weil sie in einer eingebildeten illusionären Realität lebe. Doch Frau Müllers Definition ihrer Notlage ist völlig real. Eine Illusion ist allenfalls ihre Naivität, daß sie Recht bekommen müsse. Sie für krank zu halten, weil sie als Notlage definiert, was das Gesetzbuch nicht als Notlage definiert, ist genauso illusionär. – Und daran, an der Entstehung dieser Illusion, ist die Bürokratie – wenn auch auf sehr indirekt-subtile Weise – mitbeteiligt. – Es gilt, in jedem Einzelfall zu untersuchen, wieviel Definitionsmacht der Sprache der Bürokratie von Betroffenen und Angehörigen beigemessen wird bzw. wieviel Definitionsmacht sie besitzt, weil ein Sinn für das von ihr (noch) nicht erfaßte sich noch nicht entwickelt hat (kraft Ungeübtheit der Wahrnehmung für die Bedeutung von Wirklichkeitsbereichen, für die die Alltagssprache noch keine Worte hat). Das Muster der Verzerrung dabei ist jedesmal: „Es kommt in der Welt der anerkannten Tatsachen nicht vor, daher kann es auch nur Spielerei sein – für jeden gesunden Menschen.“ (Zum Überlebensinventar des Menschen gehört die Denkneigung: „Real ist nur, was man essen kann“. Diese Neigung ist an sich produktiv. Die Tragik ist nur, daß sie in Gesellschaften und Familien immer wieder zu entstellenden Vereinfachungen der Situation führt.) Man könnte in diesem Zusammenhang von einem umgekehrten naturalistischen Fehlschluß reden: hier wird nicht aus dem Sein ein Sollen abgeleitet – wie z.B. die sozialdarwinistische Wertung, das Starke, weil durchsetzungsfähig, sei wert und das Schwache unwert – sondern aus dem Sollen, den rechtlichen Bestimmungen, ein Sein: was das Recht nicht nennt, kann auch nicht wichtig sein. – Auch die Veränderungen, die v.Ferber im Auge hatte, beseitigen eine solche Entfremdung nicht, sondern differenzieren sie bloß: Für die Alten ist inzwischen viel getan worden, aber sie kommen aus ihrer „Objektstellung“ (II 544) nicht heraus. Die Verwaltung integriert Kosten für Ergotherapeuten und Sozialpädagogen in die Tagessätze, die alten Menschen werden aktiviert und es wird ihrer Isolation entgegengewirkt. Indem die Bürokratie immer mehr Lebensbereiche der Alten erfaßt, (war es früher nur die medizinische Versorgung, so sind es mittlerweile auch die Aktivitäten und die sozialen Beziehungen) suggeriert sie, daß die auf diese Weise immer größer werdende Betreuungsbedürftigkeit ein Merkmal des Alters sei und erschwert die Erkenntnis, daß es ein Merkmal der gesellschaftlich bedingten Umstände des Alterns ist. – (Ähnlich verhält es sich auch mit der psychosozialen Versorgung von Arbeitslosen: Arbeitslosigkeit erscheint darin eher wie eine Krankheit, wie eine Schwäche. Sie suggeriert, es mit Menschen zu tun zu haben, die nicht für sich selber sorgen können, die „vergammeln“, wenn man sich nicht um sie kümmert. Pointiert wird diese Suggestion in einem Sozialarbeiterwitz entlarvt: Zwei Menschen treffen sich in einem Arbeitslosenzentrum. Der eine: „Guten Tag, ich bin der Sozialarbeiter für die Arbeitslosen.“ Der andere: „Und ich bin arbeitsloser Sozialarbeiter“. – Wir schaffen Lebenssinnsurrogate für alle, die aus der Sphäre der Produktion herausfallen und wegen der Fragmentierung der sozialen Beziehungen in kein Gemeinschaftsleben mehr eingebunden sind, in das sie sich einbringen können.)
An diesen Beispielen läßt sich Habermas Kolonialisierungsthese veranschaulichen: Es entstehen Effekte unintendierter Suggestion, weil Verwaltung entweder sich zur Vollzugsgehilfin einer gesellschaftlichen Sprachlosigkeit macht (wie im Falle des Alters) oder weil sie (durch die Verrechtlichung) Interaktionsformen, die vom Prinzip des besseren Arguments getragen werden sollten, ersetzt, durch formal organisierte juristische Vorgänge. – Aber gibt es wirklich keine anderen Möglichkeiten, den Menschen und sein „Wohl“ sozialrechlich zu erfassen? Die „Objektstellung“ der Verwalteten müßte aufgebrochen werden. Es würde darum gehen, die Idee der kooperativen Problembewältigung zu konkretisieren z.B in Form einer Art „Konferenz“, in der mit dem Betroffenen zusammen neue Lösungen für veränderte Situationen gefunden werden. So könnte für „Sonderwünsche“ bspw. mit dem Betroffenen zusammen ausgehandelt werden, daß er dafür ein paar Stunden gemeinnützige Tätigkeit verrichtet. Das würde eine Situation schaffen, die sich von der gegenwärtigen Praxis grundlegend unterscheidet: gegenwärtig bekommt der Betroffene einen Bescheid, und wenn er mehr Geld braucht als bewilligt, ist es sein Problem, ob er sich das dazu nötige Geld beschaffen kann oder nicht – die Betroffenen werden mit ihren „Restproblemen“ alleingelassen und damit werden diese Probleme nicht mehr als existentiell gewertet sondern nur noch als akzidentell: als Probleme des Lebensstils („Hobbie“). Durch ihre Beteiligung an der Hilfeplanung würde diese Ignoranz aufgehoben. Die „guten Gründe“ würden rehabilitiert, individuelle Bedürfnislagen würden wieder etwas zählen, weil man sie geltend machen könnte, die „lebensweltlichen“ Argumente von Betroffenen hätten wieder eine Faktizität.
(3.2) Paradoxien der „Verordnung“ von sozialen Hilfen
Habermas spricht von „Therapeutokratie“, aber aus dem Text geht nicht klar hervor, was er meint. – Instruktiv ist die Frage, ob Psychotherapien von Rechts wegen sinnvoll verordnet werden können. Tatsächlich ist es ja so, daß es z.B. Betriebsvereinbarungen gibt, nach denen Mitarbeiter mit Suchtproblemen ihrer Kündigung nur dadurch vorbeugen können, daß sie sich einer Entwöhnungstherapie unterziehen. Im Familien- und Jugendrecht gibt es ähnliche Verordnungen: daß Elternteile mit problematischen Verhaltensweisen ihren beanspruchten Rechtsstatus oder -titel (z.B betreffs Sorge- oder Besuchsrecht) nur erwerben oder erhalten können, wenn sie sich psychotherapeutischen Maßnahmen oder verhaltenstherapeutischen Trainings unterziehen. Solche „Verordnungen“ sind solange relativ unproblematisch, solange es ihnen ausschließlich darauf ankommt, daß sich das Verhalten ändert und das Ergebnis der Therapie nur auf der Ebene des in Frage stehenden Verhaltens überprüft wird. Dann wird nämlich genaugenommen keine Therapie verordnet, sondern eine Chance gegeben, eine ultimativ angemahnte Verhaltensänderung auch vollziehen zu können. Wenn es ein Kollege mit Alkoholproblemen schafft, auch ohne Therapie sein Verhalten zu ändern, also abstinent zu leben oder nicht mehr so zu trinken, daß er auffällig wird, dann dürfte ihm kein Nachteil entstehen, wenn er sich weigert, die Therapie anzutreten. – Anders läge der Fall, wenn die Abwendung der Kündigung nur durch ein Gutachten der Fachklinik erreicht werden könnte, das einen „erfolgreichen“ Abschluß der Therapie bescheinigt. Dann käme es zu Konfusionsproblemen: persönliche Entwicklung würde extern belohnt und damit verunmöglicht. – Im Familien- und Jugendrecht könnte eher als bei den Betriebsvereinbarungen die Gefahr bestehen, daß es zu solchen Grenzüberschreitungen kommt, weil dort das in Frage stehende Verhalten nicht so leicht überprüft werden kann: Reicht es für das Kindeswohl, wenn ein jähzorniger Vater keine offenen Zornesausbrüche mehr hat? Es könnte daher die Versuchung entstehen, Therapien mit Zertifikat einzuführen, die eine Vertrauenswürdigkeit zu- oder absprechen. Damit wäre eine ultimative Kolonialisierung der Lebenswelt erreicht: die Vertrauensbeziehung von Therapeut und Klient würde bürokratisch erfaßt und instrumentalisiert. Gefährlich nahe sind wir dieser Grenzüberschreitung schon in der Praxis der Kostenbewilligung für sozial- oder psychotherapeutische Maßnahmen, deren Bewilligung von einem Gutachten abhängig gemacht wird. Nur weil es keine unabhängigen Kontrollen gibt und die Therapeuten im Prinzip schreiben können, was sie wollen, ist die Situation nicht gravierend. Trotzdem wäre es eine Untersuchung wert, inwieweit es in diesem Sinne seitens der Patienten schon soetwas wie „therapiekonformes“ Verhalten gibt.
Bedenkliche Tendenzen zu einer „Kolonialisierung“ gibt es auch bezüglich des Selbstverständnisses der Psychotherapie. Mit dem Zwang zur technisch-naturwissenschaftlichen Selbstthematisierung der Psychotherapie setzten die Kostenträger einen Prozeß in Gang, der notwendig zu einem instrumentell-zersetzten Selbstverständnis dieser Disziplin führen muß. Ist schon die Instrumentalisierung von Psychotherapie überhaupt problematisch, weil sie notwendigerweise in isolierte Techniken zerlegt, was nur als ein integraler Prozeß der Persönlichkeitsentwicklung verstanden werden kann, so wird spätestens bei der Frage nach der Beziehung zwischen Therapeut und Klient eine lebensweltliche Integrität gefährdet. In der Darstellung eines Therapieverfahrens finden sich z.B. folgende Sätze: Eines der Ziele des Erstgesprächs sei, „dem Klienten Wertschätzung und Wärme entgegen zu bringen, damit dieser sich traut, seine Einstellungen und Gefühle offen zu äußern“ (Arend (1994) 111; Hervorhebung von mir). „Dieser Beziehungsprozeß bildet gleichsam die Basis für die angestrebten Veränderungen, wobei sich der Therapeut vor allem auf die … als effektiv aufgezeigten Therapeutenvariablen stützt“ (a.a.O. 112). Mit Hilfe von statistischen Untersuchungen variierter „Therapeutenhaltungen“ wird versucht, die „effektiveren“ Haltungen dem Klienten gegenüber zu identifizieren (vergl. Biermann-Ratjen et al.(1989) 40ff). Daß dabei die Beziehung aufgebrochen und in „Haltungen“ zerlegt wird, ist das wenigste. – Hier müssen notwendig Konfusionseffekte auftreten: die Haltung (z.B. Wertschätzung) wird eingenommen, weil sie effektiv ist, aber sie soll auch authentisch sein, weil sie nur dann wirklich effektiv sein kann. Der Therapeut wird nicht mehr unterscheiden können, ob er wirklich aus menschlicher Anteilnahme und Solidarität wertschätzend ist oder um dem Auftrag und dem damit verbundenen gesellschaftlichen Verständnis von Professionalität gerecht zu werden. (Genaugenommen handelt sich also um ein Zusammenwirken von Effekten der Konfusion und der unintendierten Suggestion.) – Daß Psychotherapie immer auch ein Bildungsprozeß ist, und daß es von einem existentiellen Standpunkt aus gesehen wichtiger sein kann, einem von einer störenden Symptomatik beeinträchtigten Leben einen Sinn zu geben, als ein sinnleeres Leben symptomfreier zu führen, kann von einem technisch-rationalen Standpunkt überhaupt nicht begriffen werden.
Diese Fälle und Fiktionen machen deutlich, daß kommunikative Leistungen nicht instrumentalisierbar sind ohne ihre spezifische Leistungsfähigkeit zu verlieren.
(3.3) Paradoxien der Verrechtlichung lebensweltlicher Interaktionszusammenhänge
Habermas beschreibt noch eine weitere Form von Kolonialisierung, die direkt in die Sphäre der symbolischen Reproduktion eingreift. Er geht davon aus, daß die Umstellung der Bereiche der symbolischen Reproduktion auf Steuerungsmedien die Form einer „Angleichung an formal organisierte Handlungsbereiche“ annehmen muß, d.h. daß kommunikativ konstituierte Handlungsbereiche wie Schule und Familie für bürokratische Eingriffe und gerichtliche Kontrollen geöffnet werden mittels „hochgradiger Differenzierung von Einzeltatbeständen, Ausnahmen und Rechtsfolgen“ (II 541). Wurden die sozialen Beziehungen, aus denen sie bestehen, früher durch Verständigungsprozesse erzeugt, verändert und reproduziert, so treten an ihre Stelle heute mehr und mehr Beziehungen, die rechtlich konstituiert sind, so daß die Verständigungsprozesse durch Regelungsprozesse ersetzt werden und die Beteiligten von einer verständigungsorientierten auf eine erfolgsorientiert-strategische Einstellung zueinander umstellen können. Solidarität wird dadurch irrelevant. Und die Verkümmerung der Prozesse, in denen Solidarität erzeugt und erhalten wird, wirkt auch zurück auf die Entwicklung und Erhaltung von persönlicher Identität, die sich ja in Auseinandersetzungen vollziehen. Habermas versucht das an den Beispielen Schule und Familie zu konkretisieren.
(3.3.1) Thema Kindeswohl
S.Simitis et al. (1979) untersuchten in einer Studie die Auswirkungen der Verrechtlichung am Beispiel des elterlichen Sorgerechts. Ihr Ergebnis war, daß die richterlichen Einschätzungen der Situation der Kinder sich vorwiegend an deren materieller Versorgung orientierten, weniger an seelischen Faktoren (Simitis 34). Habermas Auswertung dieses Ergebnisses scheint mir etwas konfus. Er versucht darin die Störungen zu erkennen, die die Umstellung von kommunikativ strukturierten Handlungsbereichen auf Steuerungsmedien verursachen. Die Studie kommt aber insofern zu einem anderen Ergebnis, als sie belegt, daß die Mißstände der richterlichen Spruchpraxis grade darauf zurückgingen, daß die Richter die gesetzlichen Möglichkeiten ihrer Verfahren nicht in vollem Umfange ausgeschöpft hatten, z.B. was die Einbeziehung von Gutachten angeht (Simitis 38), und sie konstatiert sogar eine Tendenz zur Besserung (Simitis 34). (In einem neueren Artikel konstatiert eine der damaligen Mitarbeiterinnen jedoch, daß die Diskrepanz zwischen den Möglichkeiten, die das Jugendrecht zur Verfügung stellt und dem, was davon in der Praxis genutzt wird, größer ist denn je (Zenz 1998)). Ferner zeichnen sich in der Studie eine ganze Reihe von Verbesserungsvorschlägen ab, die von den Autoren dann auch expliziert werden: z.B. die bessere Ausbildung der Sozialarbeiter in den Jugendämtern um qualifiziertere Berichte zu liefern (Simitis 36); Regelungen zur effektiveren Zusammenarbeit der beteiligten Einrichtungen; die Ermöglichung eines intensiveren Kontakts der Richter mit den Kindern (Simitis 38ff); zusätzliche Qualifzierung der Richter um die Informationen über die seelische Verfassung der Kinder angemessener einschätzen zu können (Simitis 40) sowie schließlich Maßnahmen zur „Entjustizialisierung“ der Konflikte (Simitis 39). Offensichtlich sind die Mißstände, in denen Habermas die zwangsläufigen Folgen von Verrechtlichung überhaupt sehen will, eher eine Folge davon, daß die Verrechtlichung dieses Bereichs und ihre Handhabung einfach noch nicht ausgereift sind. Habermas gesteht zwar zu, daß – zumindest in bestimmten gesellschaftlichen Handlungsbereichen – die Mediatisierung entschärft werden könne (II 544 u.546f). Er hält aber trotzdem an seiner Kritik fest, ist also offensichtlich der Meinung, daß die Verrechtlichung prinzipiell, also selbst im Idealfall der Ausnutzung aller Möglichkeiten zur Feineinstellung, immer noch „dilemmatische Strukturen“ (II 542) erzeugen müsse. Er denkt dabei an eine „Ersetzung des Richters durch den Therapeuten“ (II 544), durch die die Bürger nicht aus ihrer „Objektstellung“, aus ihrer Rolle des „Verfahrens-unterworfenen“ (II 543) befreit würden: Erziehung würde sich unter staatlicher Aufsicht vollziehen, die Eltern seien einer staatlichen Behörde rechenschaftspflichtig. Mir ist jedoch nicht klar, ob ein kategorieller Unterschied darin besteht, ob jemand bei der Erziehung seiner Kinder einer Gemeinschaft freier Menschen auf einer einsamen Insel oder einem Jugendamt gegenüber rechenschaftspflichtig ist. In beiden Fällen könnte einer Familie mit einem unkonventionellen auffälligen Erziehungsstil in die innerfamiliären Interaktionsprozesse zu unrecht eingegriffen werden: im einen Falle durch die Ignoranz eines Richters im anderen durch das Unverständnis der Mitdörfler, das sich zu mobbingähnlichen Effekten auswachsen kann. Die Frage in diesem Zusammenhang wäre, ob es durch die Zuschreibungen von Gerichten und Ämtern – z.B. daß Frau X eine Mutter sei, die das Wohl ihrer Kinder nicht gewährleisten könne – in einem grundsätzlich anderen Sinne zu Verzerrungen der Wirklichkeit kommen kann, als bei lebensweltlich entstehenden Kommunikationsverzerrungen (z.B.Mobbing).
Ein wenig näher kommen wir Habermas Intuition am Beispiel der Besuchsrechtsstreitigkeiten. Hier geht es um die rechtliche Regelung von Interaktionen: „In ¼ der durch Gerichtsbeschluß beendeten Verfahren wurde für den Fall der Zuwiderhandlung eine Ordnungsstrafe angedroht, in 29% wurden die Eltern ausdrücklich darauf hingewiesen, jeder habe sich einer Beeinflussung des Kindes gegen den anderen zu enthalten“ (Simitis 113f). Hier scheint die Interaktion mit den eigenen Kindern zu einer Art Rechtsgut geworden zu sein, das man einklagen kann; etwas, auf das man einen eigentumsartigen Anspruch haben kann, als ob es sich um ein dingliches Gut handle.
(3.3.2) Thema schulische Sozialisation
Die Bedeutung formaler Qualifikationen für den mittlerweile weitgehend durchbürokratisierten Ausbildungs- und Beschäftigungssektor hat Rückwirkungen auf die schulische Sozialisation: sie wird „in ein Mosaik von anfechtbaren Verwaltungsakten zerlegt“ (II 545). Mit Hilfe von Curricula soll die Vergleichbarkeit der Schulabschlüsse ermöglicht werden, gleichzeitig sollen die Zensurentscheidungen der Lehrer deren Subjektivität enthoben, kontrollierbar und anfechtbar gemacht sowie der Einsatz disziplinarischer Maßnahmen innerhalb der pädagogischen Prozesse erschwert werden. Wenn wir die Position der symbolischen Reproduktion an dieser Stelle ganz stark machen, könnten wir folgende „Pathologisierung“ herausarbeiten: In der schulischen Sozialisation haben die Heranwachsenden die Möglichkeit, durch Prozesse von Identifikation und Abgrenzung eine reife und erwachsene Weise zu entwickeln, Autorität zu begegnen. Dieser Aspekt des Lehrer-Schüler Verhältnisses wird jedoch nivelliert, wenn die Beziehungsspannung zwischen Schülern und Lehrern, die nach einer kommunikativen Lösung drängt, mit Hilfe des Mediums Recht reguliert wird, wenn Schüler und Lehrer sich nur noch gegenübertreten als formal gleichberechtigte Rechtssubjekte, die ausschließlich an der erfolgreichen Vertretung ihrer eigenen Interessen interessiert sind. „Die durch Justiz und Verwaltung kontrollierte Schule verwandelt sich unter der Hand in eine Anstalt der Daseinsfürsorge, die Schulbildung wie eine soziale Leistung organisiert und verteilt“ (II 546). Die Chance, daß die schulische Sozialisation frei von der traditionellen autoritären Mentalität endlich die entwicklungspsychologisch fruchtbaren Seiten ihres Konfliktpotentials entbinden kann, wird geschmählert. Dieses Ideal einer schulischen Sozialisation vermag uns zu verdeutlichen, wo wir nach Kolonialisierungseffekten zu suchen haben: soziale Beziehungen werden ausgehölt, wenn sie derart rechtlich definiert werden können, daß für die in ihnen auftretenden Konflikte formale Regulationen zur Verfügung stehen, so daß die Beteiligten „als Rechtssubjekte… einander in objektivierender, erfolgsorientierter Einstellung“ gegenübertreten (II 542).
In beiden Fällen (Umgangsrecht, Schulrecht) sind zusätzlich indirekte, subtile Entfremdungseffekte vorstellbar: Durch die Möglichkeit, Konflikte mit Hilfe von Rechtsmedien auszutragen, könnte es gewissermaßen zu einer Atrophie der Konfliktfähigkeit kommen, zur Bildung der Gewohnheit strategische Einstellungen einzunehmen sowie zum Schein der Antiquiertheit verständigungsorientierter Einstellungen (nach dem Muster illusionärer Desillusioniertheit, z.B.: „Glaubst du wirklich, dein Gegner würde das honorieren“).
(4) Die Struktur der Verrechtlichung
Habermas fragt sich, anhand welcher Kriterien man die freiheitsverbürgenden von den freiheitsentziehenden Wirkungen der Verrechtlichung unterscheiden könne, welche Komponenten des Rechts für das eine und welche für das andere verantwortlich seien (II 534ff). Er bringt an dieser Stelle den Unterschied zwischen Recht als Institution und Recht als Medium ins Spiel. Zum Verständnis des Unterschiedes können wir den Unterschied zwischen regulativen und konstitutiven Regeln heranziehen (Searle (1983) 54f). Regulative Regeln sind z.B. Tischsitten. Sie regeln die Tätigkeit des Speisens, aber sie erschaffen sie nicht. Konstitutive Regeln sind z.B. Spielregeln: sie erschaffen Handlungsweisen, die es zuvor noch nicht gab – gewissermaßen „nicht-natürliche“ Handlungen. Ähnlich in der Sphäre des Rechts: Die Möglichkeit jemanden zu verprügeln besteht völlig unabhängig von Regelungen, die wir ersonnen haben. Die Möglichkeit, sich arbeitslos zu melden wird dagegen erst durch rechtliche Regelungen konstituiert. Als Rechtsinstitution schafft Recht keine neuen Handlungsmöglichkeiten, sondern normiert nur die bestehenden, z.B. indem es Körperverletzung unter Strafe stellt. Rechtsinstitutionen werden nach dem Begründungsprinzip erzeugt: Sie sind legitimatorisch in der Lebenswelt verwurzelt, sie müssen sich ihren Maßstäben fügen. – Recht als Medium dagegen schafft neue Handlungsmöglichkeiten, so wie es Spielregeln tun. Es wird nach dem Satzungsprinzip erzeugt, d.h. es ist „von der Begründungsproblematik entlastet und allein über formell korrekte Verfahren mit dem inhaltlich legitimationsbedürftigen Rechtskorpus verbunden“ (ebd.). Die Entfremdungseffekte sind Habermas zufolge nur dem Steuerungsmedium Recht geschuldet, sofern es über die „formal organisierten Handlungsbereiche“ des Wirtschafts- und Verwaltungsrechts, in denen es entstand, hinausgeht und über Sozial- Familien- und Schulrecht in Bereiche der Lebenswelt eindringt (II 538). Denn durch die Abkoppelung von der Begründungsproblematik werden in der Lebenswelt Strukturen geschaffen, ohne auf ihre Belange Rücksicht zu nehmen, sozusagen ohne sie zu fragen. Die Verfahrenskriterien genügen allein der funktionalen Vernunft des Verwaltungssystems. Dieser Prozeß der medialen Verrechtlichung ist Habermas zufolge aber zwangsläufig, weil „die Rechtsinstitutionen, die sozialen Ausgleich verbürgen, nur über ein als Medium genutztes Sozialrecht wirksam werden“ (II 539). Den Grund dieser Zwangsläufigkeit erklärt Habermas nicht, aber er gibt einen Hinweis: daß sie mit dem Unterschied von Freiheits- und Teilhaberrechten zusammenhängen könnte (II 534f). Was er dort am Beispiel des Wahlrechts streift, kann auch für die Problematik des Sozialrechts ausgeführt werden: Die Freiheitsrechte sind regulative Regeln, indem sie einen Katalog strafwürdiger Handlungen aufstellen (und damit einen Bereich privater Willkür ausgrenzen) (ebd.). Der Wert, der die Bildung dieser Regulativa motivierte: daß die Integrität des Einzelnen unantastbar sei, verlangt aber auch Teilhaberrechte: daß niemand neben einem Satten verhungern soll. (Der Wert den wir menschlichem Leben beimessen, verlangt nicht nur, etwas zu unterlassen, sondern auch, etwas zu tun.) Die Grundbestimmungen des Sozialgesetzbuches sind daher zwar auch Rechtsinstitutionen: die „Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht“ (§1,2 BSHG). Das ändert sich aber da, wo die Hilfeverpflichtung konkretisiert werden soll: mit der Notwendigkeit, festzuschreiben, was eine hilfsbedürftige Notlage sei, wie der Betroffene sie nachzuweisen habe wieviel ihm dann zustehe und von wem die Hilfe zu erbringen sei. An diesen Stellen werden die rechtlichen Bestimmungen gewissermaßen zu „Spielregeln“. Aber Habermas zeigt damit nur, daß „die Aspekte des Freiheitsentzugs nicht aus der Form von Teilhaberrechten, sondern lediglich aus der bürokratischen Art und Weise ihrer Implementierung“ ableitbar seien. Er hat damit noch kein Kriterium angegeben, woran formal Rechtsinstitutionen von Rechtsmedien zu unterscheiden sind. Er schlägt als „Test“ lediglich vor, die Frage nach dem Legitimationsmodus zu stellen: ob Verfahren oder Begründung. In diesem Zusammenhang geht er aber dann nicht weiter darauf ein, was es bedeutet, daß durch die Möglichkeit zur Rechtsklage immer eine zumindest virtuelle Begründbarkeit gegeben ist.
(5) Zusammenfassung
Gesellschaft braucht für ihren Zusammenhalt Solidarität. Solidarität reproduziert sich durch Interaktionen, die über das Prinzip des besseren Arguments vollzogen werden. Wird dieses Prinzip systematisch ignoriert, indem Interaktionsbereiche – z.B. die Abrufung von Solidarleistungen – mediatisiert werden, kann das nicht folgenlos bleiben: es entstehen Motivationskrisen an den Austauschgrenzen von Lebenswelt und Verwaltung und es treten Entfremdungseffekte innerhalb der Lebenswelt auf. Diese äußern sich als verzerrte Kommunikation, wo die Sprache durch die bürokratisch gesetzten Faktizitäten sich verändert, und als Konfusion sowie Zersetzung von Vertrauen und Kooperationsbereitschaft innerhalb der Lebenswelt, wo die Verrechtlichung genuin kommunikative Leistungen zu instrumentalisieren versucht oder die Orientierung an individuellen Nutzenkalkülen fördert und auf diese Weise die sozialen Beziehungen aushölt. Die Paradoxien, für die es sich zu sensibilisieren gilt, sind von der Art, daß Bürokratie und Verwaltung Möglichkeiten der Gewährleistung von Wohl schaffen, und indem sie sie schaffen, das zu Gewährleistende gleichzeitig zersetzen: eine Altenversorgung, die defiziente Modi des Alterns fördert; eine psychotherapeutische Versorgung, die durch externe Belohnung bzw. Bestrafung von Patientenverhalten Fragwürdigkeiten in den psychotherapeutischen Prozeß hineinbringt. – Die brennenste Frage in diesem Zusammenhang ist, inwieweit solche Paradoxien notwendig mit der Schaffung dieser Möglichkeiten verbunden sind, kraft des Wesens der Verrechtlichung, und inwieweit sie einfach gesellschaftliche Ambivalenzen spiegeln (so z.B. Unterstellungen wie: daß Arbeitslose nicht arbeiten wollen); und ob Verrechtlichung nicht prinzipiell auch paradoxiefrei genutzt werden kann, z.B. ob damit nicht Rahmen geschaffen werden können, in denen verständigungsgetragene soziale Beziehungen florieren können. (Ich denke da etwa an Ideen zur Entanonymisierung und Gemeindebildung in Stadtteilen, so daß die Lebenswelt informell, aus eigener Kraft, ihre Probleme lösen kann.)
Literatur
Arend, Horst: Alkoholismus, Therapie und Rückfallprophylaxe, Weinheim 1994
Biermann-Ratjen et al.: Gesprächspsychotherapie, Stuttgart 1989 (5)
Ferber, v.Chr.: Sozialpolitik in der Wohlstandsgesellschaft, Hamburg 1967
Fischer, A.: Angriff auf die sozialen Bürgerrechte, TAZ vom 27.2.97
Habermas, J.: Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde; Frankfurt a.M. 1981
Searle, J.: Sprechakte, Frankfurt a.M. 1983
Simitis, S, et al.: Kindeswohl, Frankfurt a.M. 1979
Winch, P.: Die Idee der Sozialwissenschaft, Frankfurt 1974 (Orginal 1958)
Zenz, G, in: Der Spiegel Nr.23 1998, S.60ff