Geschrieben 2014 – Lesezeit: 14 Minuten
1 Goethes Formel für Gewalteskalation
Wenn es ethisch geboten ist, militärisch einzugreifen, um die Bevölkerung vor den islamischen Milizen zu schützen, ist es nicht nötig, diese Milizen für „das Böse“ zu halten (FAZ), für „die Ausgeburt der Hölle“ („Die Zeit“) oder ein „Krebsgeschwür“ (Obama). Das führt von der Realität weg. Eine solche Benennung ist die Ausgeburt von Irrationalität, Ignoranz und Scheinheiligkeit. Es ist die Frage, ob das nicht zu einer Einschränkung der Handlungsfreiheit führt, zu einer unintelligenten Antwort auf die Aggression, die keinerlei Vorteile für den akuten Schutz der Zivilisten bringt, aber Möglichkeiten langfristiger Deeskalation verspielt.
Goethe bringt die Gewaltspirale ein einem ebenso kabarettistischen wie grausigen Bild auf eine Formel: Nachdem Seismos angeberisch mit vulkanischer Gewalt ein Gebirge aufgetürmt hat, nehmen es dickbäuchig-krummbeinige Zwerge gleich in Beschlag: „Haben wirklich Platz genommen, wissen nicht, wie es geschah, fragen nicht, woher wir kommen, denn wir sind nun einmal da!“ Der Zwergengeneral befiehlt: „An jenem Weiher schießt mir die Reiher! Unzählig nistende, hochmütig brüstende!“ – Später kommentiert der Philosoph Thales die Rache der Kraniche: „Doch der Mordgeschosse Regen schafft grausam blutgen Rachesegen, erregt der Nahverwandten Wut nach der Pygmäen frevlem Blut“ (1).
Kleingeistig und fatal ist die Kombination aus Kontextignoranz („fragen nicht woher wir kommen“), Entsolidarisierung (das sind ja bloß Reiher), Unterstellung (die brüsten sich hochmütig) und Entwertung (es gibt eh zuviele davon). – Es kommt nicht darauf an, auf wen das Bild mehr zutrifft, ob auf die „Islamisten“ oder auf uns – sondern wessen Ansprüchen es mehr widerspricht. Wir sind zweifellos moderner und zivilisierter als die Milizen. Aber wenn wir sie für ein bösartiges Krebsgeschwür halten, offenbaren wir strukturell vergleichbare Verarbeitungsweisen – nur in ihren Auswirkungen zivilisatorisch moduliert. Das muß nicht – wie Guantanamo zeigt – in jedem Fall heißen: weniger grausam – aber es heißt in jedem Fall: weniger impulsiv, ziellos und willkürlich (2).
2 Drohnen
Obwohl: auch unsere Kriegsführung scheint manchmal eher irrational-aktionistisch als gezielt. Simon Jenkins, außenpolitischer Kommentator des Guardian, schreibt:
„Ich habe nicht eine unabhängige Studie über die Drohnenkriege in Afghanistan, Pakistan, Jemen und am Horn von Afrika gelesen, die behauptet, dass diese Waffen irgendeinem strategischen Ziel dienen. Ihr „Erfolg“ wird nur im „Body-Count“ ausgedrückt, in der Zahl der getöteten „Anführer mit Al-Qaida Verbindung“. … Im Vorjahr kam ein Report von Juristen der Universitäten Stanford und New York zu dem Schluss, dass diese Attacken in vielen Fällen illegal seien, Zivilisten töteten und militärisch kontraporduktiv ausfielen. Unter den Toten der untersuchten Operationen befanden sich 176 Kinder. … es läßt sich kaum erkennen, dass Drohnen dazu beitragen, Kriege zu gewinnen. Das Töten von alQuida-Kommandeuren führt zum Ersatz durch andere, die auf Rache sinnen. …. Durch Drohnen … werden Herzen und Köpfe verwüstet. Diese fragwürdige Kriegswaffe treibt einen Gegner nicht in Niederlagen, sondern zur Vergeltung. …. Die Jemeniten würden nun AlQaida-Werbern gegenüber stehen, die ihnen Bilder ins Gesicht hielten, auf denen von Drohnen abgeschlachtete Frauen und Kinder zu sehen seien. Die vermutete Mitgliedschaft der Al-qaida-Filialen im Jemen soll sich von 2009 bis heute verdreifacht haben“ (zitiert nach: „Freitag“ 31.01.2013, S 9).
Wir Morden zurück und machen dadurch wahrscheinlich alles Schlimmer. Aber wir nennen das: Sicherheitspolitik. – Durch resistente Krankenhauskeime und unangemessene Geschwindigkeit im Straßenverkehr sterben jährlich weit mehr Menschen als durch „Terrorismus“ in Jahrzehnten zu erwarten gewesen wäre. Aber wir morden lieber in der Ferne, statt die Massentierhaltung, die maßgeblich für die Resistenzen verantwortlich ist, zu reglementieren, und die heimischen Krankenhäuser besser auszustatten. Und für ein ominöses „Grundrecht auf Sicherheit“ zersetzen wir lieber mit juristischen Spitzfindigkeiten die Wirksamkeit des Grundgesetzes, statt gegen den tatsächlichen täglichen Blutzoll auf den Straßen die Straßenverkehrsordnung zu ändern. Die mörderischen Drachen im eigenen Land lassen wir gewähren und beschwören stattdessen die Gefahren durch märchenhafte Ungeheuer aus Tausend-und-Einer-Nacht… (3)
Nie wurde resoluter Recht und Ordnung versprochen als 1933 in Deutschland. Es ist nicht auszuschließen, daß Sicherheitsversprechen einmal eine ähnliche Entwicklung nehmen…
3 Pazifistik
Es gilt als naiv, zu glauben, Völkermorde ohne Waffen verhindern zu können. Nachzulesen z.B. im Interview des Spiegel mit Bischöfin Käsmann (Nr. 33, 11.8.14). Im gleichen Spiegel wird erwogen, Ehekrisen mit Chemikalien zu überwinden. Der Philosoph Habermas nennt das: „Selektives Muster von Rationalisierung“ (4): Wir können besser Bomben bauen als Frieden stiften. Die soziale Intelligenz ist unterentwickelt.
Was ist denn wirklich naiver: Zu glauben, daß Israel mit dem Bombardement von Gaza endlich Frieden bekommt, oder daß es gar keinen Krieg gegeben hätte, wenn der Bevölkerung von Gaza eine Chance gestiftet worden wäre, sich wirtschaftlich zu entwickeln? (Anm. 2024: Dieser Text wurde 2014 geschrieben!!! Gemeint ist das damalige Bombardement!)
Was ist naiver: zu glauben, daß es mit dem radikalen Islam noch viel schlimmer wäre, hätten wir nicht Afghanisten bombardiert, Irak zerstört und die Drohnen losgelassen – oder daß die Radikalen im Islam eine verschwindende Minderheit wären, hätten wir die gleichen Geldmittel dafür verwendet, den Ländern und Regionen einen wirtschaftlichen Aufschwung zu ermöglichen?
Die soziale Einfallslosigkeit regiert die Welt. Und sie hält sich für so intelligenter, je intelligentere Waffen sie baut – je mehr sie also ihrer Einfallslosigkeit auf den Leim geht. – Und wie blöd ist das: wenn man gegen den Krieg ist, wird man in einen Topf geschmissen entweder mit Religiösen oder mit Radikalen – „Vernünftige“ sind für den Krieg.
Aggression ist ein Mittel gegen Probleme, die man nicht hätte ohne sie. Die Menschheit lebt unter ihren geistigen Möglichkeiten. Sie humpelt herum, wie jemand, der immer nur das rechte Bein betätigt und dort riesige Muskeln entwickelt hat, mit denen er locker 100 Ein-Bein-Kniebeugen schafft – das linke Bein dagegen zieht er verkümmert hinter sich her. Und wenn jemand versucht, ihn darauf aufmerksam zu machen, sagt er verständnislos: „Wovon redest Du? Ich und schwache Beine? Spinnst Du? Ich kann doch locker 100 Kniebeugen!“
4 Milizen
Der Schriftsteller Leon de Winter schließt von einem Spielfilm, in dem Tartaren mit „glühender Begeisterung“ Greueltaten in einer eroberten Stadt begehen, auf die Dschihad-Kämpfer (FAZ vom 20.08.14). Deutlicher kann er nicht zu erkennen geben, dass er sich mit seiner Fantasie beschäftigt, mit dem, was er sich vorstellen kann. Aber das Vorstellbare gilt es nicht anzunehmen, sondern zu überprüfen.
Er schreibt, dass es „Männer mit soliden Zukunftschancen“ seien, die freudig erregt Massaker an Wehrlosen veranstalten im Namen der Religion: Woher weiß de Winter das? Hat er Personalbögen unter den Milizionären verteilt? Es gibt viele Millionen sunnitischer Männer im kampffähigen Alter. Selbst wenn die alle solide Zukunftschancen hätten: Es gibt nur einige zehntausend Milizionäre. Rein statistisch sind es wahrscheinlich weit weniger als 0,1 % aller sunnitischen Männer im kampffähigen Alter, die sich zu den Milizen melden. Selbst bei einer hundert Mal höheren Rate bliebe es rein von den Zahlen her noch wahrscheinlich, dass es sich bei Milizionären um Männer mit dissozialer Störung handelt oder anderen schweren Persönlichkeitsstörungen, oder mit Traumatisierungen oder schweren chronifizierten Selbstwertproblemen, Sinn- und Orientierungskrisen. – Welche Ausgangsgrößen wir auch immer ansetzen: dieses Zahlenspiel zeigt, welche Fragen gestellt und beantwortet werden müssen, soll so eine Behauptung mehr sein als Agitation.
Wieso sollten gesunde junge Männer, die eine sinnvolle berufliche Perspektive vor sich sehen und die Möglichkeit eine Familie zu gründen, wieso sollten die plötzlich zu Monstern werden? De Winter gibt die Antwort: weil junge Männer es so Klasse finden, hemmungslos „primitivsten Bedürfnissen und Impulsen“ nachzugeben, „im orgiastischen Fieber [zu] vergewaltigen, [zu] töten und Beute [zu] machen“, „die Energien und Bedürfnisse, die junge Männer in einer zivilisierten Gesellschaft unterdrücken müssen, neu [zu] fokussieren“. –
Wahrscheinlicher als die Vermutung, daß junge Männer am liebsten Monster wären und sich zusammenreißen müssen, es nicht zu sein, ist, daß die meisten Milizionäre gerade keine „soliden Zukunftschancen“ haben. Die meisten sogenannten „Islamisten“ sind junge Männer aus den ärmsten und bevölkerungsreichsten Regionen der Erde, die keine Chance haben, mit redlicher Arbeit genug zu erwirtschaften, um eine Familie zu gründen. Und da Mutter Natur uns gut fürs Überleben ausstattet, handelt es sich bei ihnen eigentlich um was richtig Gutes: ein riesiges menschliches Potential, jede Menge körperlich fitte, normal intelligente, leistungsfähige junge Männer, die alles werden könnten, vom Profifußballer bis zum Professor.
Aber da wo die meisten von ihnen aufwachsen, können sie gar nichts werden. Es wäre nachvollziehbar, wenn sie jungen Frauen mehr anbieten möchten, als den Status des Hinterwäldlers, des Verlierers. Und selbst wenn diese Perspektiv- und Hilflosigkeit und die daraus entstehende Wut für die meisten kein Grund zum Morden wären, so bildet diese Kombination doch den Stoff für einen Bezugsrahmen, ohne den selbst die gewaltbereitetsten Männer nicht zuschlagen würden, weil ihr Verhalten sonst unverständlich wäre und sie in ihrer Bezugsgruppe als asozial, willkürlich-unberechenbar und krank daständen. (6)
Unter dieser Sichtweise scheint es mir eher ein Wunder, daß es in den islamischen Ländern nicht noch viel mehr Milizionäre gibt. Möglicherweise liegt das daran, daß der Islam eben doch eine traditionsreiche Hochkultur ist… (5)
Wie dem auch sei. Möglicherweise gilt überall, wo es um menschliches Verhalten geht, daß man die Ursache von etwas Störendem nicht kennen muß, um es zu verändern. Denn man kann Alternativen entwickeln, die es in Schach halten und schließlich völlig bedeutungslos machen.
Es gibt keine „Menschliche Natur“, wir sind Kulturwesen. Aber es scheint gewisse ähnliche Tendenzen zu geben: In einem Cafe mußte ich über längere Zeit Fetzen einer Unterhaltung am Nachbartisch mit anhören, in der es um einen Erbstreit ging, kompliziert, mit Brüdern, Schwagern, Nichten, Tanten. Ein paar Tage später fiel mir zufällig ein kleines Bändchen mit den ältesten ägyptischen Schriften in die Hände, den ältesten Schriften der Menschheit überhaupt. Ich schlug es auf und las komplizierte Erbrechtsbestimmungen: wer wie bestimmen darf, wem aus der Familie etwas vom Erbe zufallen soll.
Statt den Illusionsbildungen des Augenscheines zu erliegen, der schnell abgründige Gräben zwischen die Menschen liest, wäre es auch möglich einmal an den Ähnlichkeiten anzusetzen (7). – Junge Männer möchten in der Regel eine hinlänglich attraktive Gefährtin und irgendwann eine Familie gründen und zwar auf der Basis einer Tätigkeit, mit der sie genügend Nahrung und Zeit für Frau und Kinder aufbringen können. Darin sind sich die meisten jungen Männer dieses Planeten so ziemlich gleich. Junge Männer wollen natürlich noch jede Menge anderes und das meiste davon ist blanker Unsinn. Aber wenn sie Aussicht auf Gefährtin, sinnvolle Arbeit und Familiengründung haben, können sie in der Regel auf das Schlimmste dieses Unsinns gut verzichten. Denn glücklicherweise sind unsere Nerven nach dem Prinzip der reziproken Hemmung organisiert: wenn man kratzt, juckt es nicht mehr. Schon ein schlichtes Maß an Glück und Sinn reicht gegen das Jucken des Fells nach Unsinn und Gewalt.
Die Frage ist schließlich auch: ist die Grausamkeit wirklich ein Alleinstellungsmerkmal des radikalen Islam? Oder inwieweit handelt es sich hier um die Grausamkeit des Krieges und der rechtsfreien Räume, die im Krieg entstehen? Selbst bei den Kriegen, die uns heute wegen der bunten Uniformen wie Operettenkriege anmuten, verübten Krieger Greueltaten an Wehrlosen, man lese nur mal J.P.Hebels Geschichte „Ein Husar in Neiße“. Oder man denke an die Japaner in Nanking. Und die protestantischen Christen der USA haben nichts wesentlich anders als die radikalen islamischen Eiferer gemacht, als sie die Indianer abschlachteten. Von uns Deutschen ganz zu schweigen. – Natürlich gibt es bei all diesen Beispielen wichtige Unterschiede. Aber wir müssen das Gleiche, die Invarianzen, in den Völkermorden und Greueltaten verstanden haben, um die Bedeutung der Unterschiede einschätzen zu können.
„Eine Rhetorik, die sich bisher am Rand der Agitation bewegte, tritt plötzlich im Gewandt der höheren Einsicht auf: Derjenige der offen ausspricht, daß Juden oder Muslime brutal und mörderisch seien, wird in dieser Fiktion als derjenige dargestellt, der die Verkleidung durchschaut“. (Aus: „Die neue religiöse Intoleranz“, Besprechung des neuen Buches der amerikanischen Philosophin Martha Nussbaum im „Spiegel“ 35/2014, S. 126.)
Die Radikalisierung des Islam ist in ihren grausamen Formen nicht zu tolerieren. Aber sie zeigt: die Globalisierung muß auch eine Globalisierung der Chancen sein. Und unsere westlichen Gesellschaften sind nicht unschuldig daran, daß es erst dieser Grausamkeiten bedurfte, um das in seiner ganzen Tragweite zu begreifen.
Zusätze
(1) Szenisches Lesen: Die „Anmutungen“ von Goethes szenischer Pointierung – und damit ihre heuristische Kraft – erschließen sich erst richtig, wenn man diese Szene sieht – es ist Theater, nicht Literatur! Theater-Texte zu lesen ist im Gegensatz zum Roman deshalb so spröde, weil sie nur die gesprochenen Worte vermitteln. Das andere muß sich der Leser selbst denken. Es setzt eine gewisse Inszenierungsphantasie beim Leser voraus, es muß „szenisch“ gelesen werden.
(2) Axiom von der Interpunktion der Ereignisfolgen: Zu den Dingen, die wir nicht wissen können, gehört: was zuerst war: die menschenverachtende Tat oder die menschenverachtende Strafe. Gleiches mit Gleichem zu vergelten führt zu Vergeltung ohne Ende. Wir könnten von den Kulturen lernen, die sich selbst noch durch Blutrache zerfleischen. Die Rache unterliegt der Illusion, als könnte die Schuld an einer Normverletzung allein demjenigen zugeschrieben werden, der sie begangen hat. Die Rächer ignorieren, was dem aktuellen Normbruch alles vorausgegangen ist und unter welchen Bedingungen und Kontexten er stattgefunden hat. (Vergl.: das „Axiom der Interpunktion von Ereignisfolgen“, in: Watzlawick, P., Beavin, J., Jackson, D., Menschliche Kommunikation, Bern 1990 58f). Es ist eine Regression auf eine frühkindliche Art zu denken, der „Äquvalenzmodus“: eine Sache ist so, wie ich sie erlebe und was sich böse anfühlt muß auch bös gemeint sein. Selbst eine Tür, an der das Kind sich stößt, ist deshalb vor Strafe nicht sicher. – Und nicht nur Kinder, auch Zivilisationen müssen lernen, zu differenzieren: Im Mittelalter wurden auch Menschen hingerichtet, die unbeabsichtigterweise, durch Unfall, jemanden getötet hattten, so z.B. ein Arbeiter der von einer Brüstung fiel und auf einen anderen stürzte, der zufälligerweise gerade dort vorbeiging. (Oesterdiekhoff, ‚Georg W. Kulturelle Bedingungen kognitiver Entwicklung, Frankfurt 1997, 10 ff, Bsp. S111).
(3) „Abgesehen von einigen wenigen schrecklichen Ausnahmen, wie den Anschlägen vom 11. September 2001, ist die Anzahl der Opfer von Terroranschlägen sehr gering im Vergleich zu anderen Todesursachen. Selbst in Ländern, die Ziele intensiver Terrorkampagnen waren, wie etwa Israel, erreichte die wöchentliche Zahl der Todesopfer praktisch niemals auch nur annähernd die Zahl der Unfalltoten. Der Unterschied liegt in der Verfügbarkeit der beiden Risiken, der Leichtigkeit und Häufigkeit, mit denen sie uns einfallen. Grauenvolle Bilder, die in den Medien endlos wiederholt werden, nehmen uns alle schwer mit. Wie ich aus Erfahrung weiß, ist es schwer, sich durch vernünftiges Argumentieren selbst in einen Zustand völliger Ruhe zu versetzen…“ (Daniel Kahnemann, Schnelles Denken, Langsames Denken S. 181).
Links: Eine einschlägige Zusammenfassung der Sicherheitsgesetze gibt es unter: https://www.sueddeutsche.de/politik/rechtsstaat-nach-vergiftete-paragraphen-1.1122669-2 – Eine eingehende Beurteilung unserer Freiheitsverteidigung am Hindukusch gibt es unter: https://www.ag-friedensforschung.de/themen/Bundeswehr/weissbuch/strutynski.html – sowie unter: https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-72462750.html (Spiegel 31/2010, E.Körthin, Die stille Kraft der Zeit; und: https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-76764208.html (Spiegel 6/2011, J. Todenhöfer, Der Krieg der vier Lügen). –
Artikel zum Thema Drohnen: Thomas Darnstädt, Ein Feind namens Müller, Spiegel 6/2013, S. 41 – Ein Interview dazu mit Noam Chomsky gibt es in der „Zeit“ vom 19.06.2013
DVD´s zum Thema: Waltz with Baschir und Löwen und Lämmer
(4) J. Habermas zeigt in seiner „Theorie des kommunikativen Handelns“ anhand der Genese unserer abendländischen Rationalität, dass wir erst die technische Rationalität entwickelt haben. Er zeigt andere mögliche Formen von Rationalität, an die wir in unserer historisch bedingten Beschränktheit noch nie gedacht haben, ja, die uns sogar irrational erscheinen müssen, weil wir nur technische Maßstäbe für Rationalität besitzen. (Beleg folgt.)
(5) Die „Youth-bulge“-Hypothese ist umstritten, weil nicht alle Nationen mit einer explosiven Bevölkerungsentwicklung Völkermorde begehen:
(Vgl.:https://www.berlin-institut.org/fileadmin/user_upload/Jugend_und_Kriegsgefahr/Jugend_und_Kriegsgefahr_web.pdf).
Offenbar sind noch andere Variablen im Spiel. Das scheint noch zuwenig erforscht.
Der Soziologe Gunnar Heinsohn schreibt in seinem umstrittenen Buch: „Söhne und Weltmacht“: „Drittweltländer können Millionenarmeen junger Männer ins Feuer schicken, die als zweite oder gar vierte Söhne daheim nirgendwo wirklich gebraucht werden, weshalb der Heroismus als wirkliche Chance erscheinen kann“ (16). … „Das aktuell quantitativ beeindruckendste Beispiel für youth bulges liefern die islamisch geprägten Länder die in nur fünf Generationen (1900 – 2000) von 150 auf 1200 Millionen Menschen zugenommen haben“ (25). … Er zitiert Huntingten: „Das riesige Reservoir an oft beschäftigungslosen Männern zwischen 15 und 30 ist eine natürliche Quelle der Instabilität und Gewalt innerhalb des Islam wie gegen Nicht-Muslime. Welche anderen Gründe auch sonst noch mitspielen mögen, dieser Faktor allein erklärt zu einem großen Teil die muslimische Gewalt“ (31). – Er zitiert Th. Hobbes: „Arme und zugleich harte Männer – unzufrieden mit ihrer gegenwärtigen Lage – .. sind am ehesten geneigt, Kriegursachen zu schüren sowie Unruhe und Aufruhr zu stiften“ (27) – Sherko Fatah, ein kurdisch-deutscher Schriftsteller, im Interview mit der Zeit vom 28.08.14, S.39f: „Es herrschte damals Säkularismus. … Es gab Neubauten und Autobahnen. … Die jüngeren Frauen waren meist westlich gekleidet, es gab Straßencafes, Bars. Der Westen war einfach schick. Und dann begann etwas in der islamischen Welt, das wir nicht verstehen“ (39). Später sagt er: „Bagdad hatte 1935 etwa 300000 Einwohner. Jetzt sind es 8 Millionen. Diese Eckensteher… junge Leute, die eigentlich keine Aufgabe haben und sich auch keine suchen können, die gibt es überall“ (40).
Vielleicht ist es ein gutes Zeichen, daß das Argument der Überbevölkerung in der Öffentlichkeit nicht diskutiert wird, dass man sich nicht traut zu sagen: dort leben zu viele Menschen. Da könnte eine menschenverachtende Konnotation heraus gehört werden, zumal faschistoide Bewegungen häufig unterschwellig sexualisierte Argumente über eine zu hohe Fortpflanzungsrate ihrer Feinde benutzen, um Ressentiment zu schüren (s.o.: Goethes Formel für Eskalation). – Kein Mensch kann zu viel sein, denn kein Mensch ist Mittel zu etwas anderem sondern jeder ist Zweck an sich selbst, jeder hat seine Daseinsberechtigung allein dadurch, daß er da ist – denn jeder ist dafür gemacht zu leben, nicht dafür, zu sterben, ohne gelebt zu haben. – Man sollte in Argumentationen über Bevölkerungswachstum das „zuviel“ durch ein „so viele, daß“ ersetzen: „Es leben in dieser Region so viele Menschen, daß die Produktivkräfte der Region, wenn sie sich selbst überlassen bleibt, nicht hinreichen, allen die wirtschaftliche Grundlage für die Gründung einer eigenen Familie zu gewährleisten.“ –
(6) Der Begriff „Bezugsrahmen“
Womit wir heute, nach allen Forschungen über die nationalsozialistischen Massenmörder, rechnen müssen, ist erschreckender als unsere Alpträume: Jeder von uns könnte leicht so ein Massenmörder werden! – Es zeigte sich, daß die meisten von ihnen völlig normale Bürger waren. Weder in ihren empirisch erfaßbaren Persönlichkeitsmerkmalen unterschieden sie sich von „uns“ (von der „Normal“-Bevölkerung), noch in ihrem zivilen Leben: Nach ihren Taten lebten sie weiter als ganz normale Handwerker, Lehrer, Polizisten und Familienväter, wie alle andern auch. Jeder nette und hilfsbereite Nachbar hätte jemand sein können, der eigenhändig hunderte Frauen und Kinder erschossen hätte.
Der Nationalsozialismus ist in seiner unfaßbaren Grauenhaftigkeit mit Abstand das wichtigsten Lehrstück der Sozialpsychologie. Es zeigt, daß auch perverse Normen mit moralischen Grundhaltungen verbunden und zur „Normalität“ gemacht werden können. Möglich wird das durch bestimmte Eigenarten kollektiver Prozesse, Strukturen und Bereitschaften z.B. bei einer Kombination folgender Faktoren: Sorge wegen einer kollektiven Problemlage; Vorhandensein einer glaubwürdigen gesellschaftlichen Autorität, die Erklärungen für die „tiefere“ Ursache des Problems und für dessen Lösung anbieten; die Verknüpfung dieser „Theorie“ mit Alltagsstrukturen (so daß es z.B. normal wird, jemanden aus einem Sportverein auszuschließen, weil er einer bestimmten Religion angehört) und ideologische Immunisierungsstrategien in Form von Zirkelschlüssen: „wer an der Richtigkeit der Problemerklärung zweifelt, ist ein Saboteur“ (denn er sabotiert die aus der Erklärung abgeleitete Problemlösung). (Oder: „Wer daran zweifelt, daß unser Glaube der richtige Glaube ist, der ist schon vom rechten Pfade abgekommen, der ist infiziert von Ungläubigkeit, Hochmut, Verweichlichung, Sündhaftigkeit usw“.)
Solche Zirkelschlüsse haben immer die Form: „Der Zweifel am Teufel ist schon eine seiner Eingebungen“. Dadurch werden bestimmte Überzeugungen und Gewißheiten der Diskussion entzogen und unkorrigierbar. Wohin es führt, sich immun gegen Korrektur zu machen: auch dafür ist der Nationalsozialismus eines der eindrücklichsten Beispiele.
Wir Menschen sind grundsätzlich anfällig für solche kollektiven Dynamiken, weil wir Rudelwesen sind. Die Überlebenschancen außerhalb des Rudels waren in der Umwelt, in der unsere Spezies entstand, gering. Evolutionäre Varianten, deren Gehirne die Absonderung vom Rudel nicht mit Angst- und Schmerzgefühlen „bestraft“ hätten, wären einfach ausgestorben. Wir wissen heute, daß Erlebnisse von Ablehnung, z.B. bei „Mobbing“, im Gehirn die gleichen Aktivitätsmuster auslösen wie körperlicher Schmerz. Selbst wenn unsere Bezugsgruppe fragwürdige Überzeugungen und Normen entwickelt, ziehen wir es „instinktiv“ vor, integriert zu bleiben, statt als Quertreiber zu gelten. – Die Bezugsgruppe zu wechseln ist schwierig wegen eingebauter moralischer Tabus: Wer seine Gruppe verläßt, läßt sie im Stich. Wer jemanden im Stich läßt, ist auch in anderen Gruppen nicht willkommen…
Das Böse ist nicht im Testosteron oder im Islam zu verorten sondern in jenem Zug menschlicher Soziodynamik, der zur Ausbildung selbstimmunisierender Bezugsrahmen führen kann, zu geschlossenen, von allen Korrektiven abgekoppelten Räumen, in denen Trieb und Fantasie sich ebenso realitätsfern wie gnadenlos verbinden können.
Der Mensch ist gut. Nur der Mob ist böse.
Literatur: Harald Welzer: Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden.
Zwei Beispiele, wie nah hinter dem Alltag solche Bezugsrahmen sich spontan bilden können, findet man in Ferdinand Schirachs Buch „Schuld“: „Das Volksfest“ und „Die Illuminaten“.
(7) „Natur des Menschen“ zu ersetzen durch „gewisse ähnliche Tendenzen“ macht strenggenommen keinen großen Unterschied. Der Unterschied ist hier einer in der argumentativen Verwendung: In der Regel wird „die Natur des Menschen“ gebraucht, um Normen und Werte vorzuschreiben: „So soll es sein, sonst ist es naturwidrig“. (Selbst wenn es wahr wäre, wäre darauf zu antworten: „Und wenn schon!“. Das sollten wir spätestens nach Humes Analyse des „naturalistischen Fehlschlusses“ wissen.) Mein Argument besteht dagegen aus der Frage, was dagegen spricht, einmal davon aus zu gehen, daß es gewisse, naturgegebene „gute“ Tendenzen in der Menschheit gibt, auf die man bauen kann,
Ergänzung:
Link zu einem anderen Artikel von Leon de Winter, der ebenfalls vulgär-wissenschaftlich das Ewig-Männliche behandelt,, aber den Stoff zu guten und wichtigen Fragen bietet:
Link zu einer Geschichte von Lars Lehmann über einen anderen Aspekt des „Ewig-Männlichen“: Schmetterlinge