Erste Ideen für offene Bürgerräte

(Lesezeit: 10 Minuten)

1

Demokratie heißt: Die Bürger müssen für sich selber sorgen. – Doch wir haben das Sorgen delegiert an Parteien, Parlamente, Verwaltung, Medien, Wirtschaft und Wissenschaft. Unsere Ideen, unser Wissen, unsere Vermutungen und unsere Lebenserfahrung bleiben weitgehend ungehört.

Ein Entwicklungsschritt unserer Demokratie könnte sein: daß Bürgerräte entstehen, die in der Öffentlichkeit eine unignorierbare Stimme haben. – Alle können sich in Themen einarbeiten und mitdiskutieren. – Die von den Räten geschaffene informationelle Infrastruktur wird es ermöglichen, daß 2 Stunden Zeitaufwand pro Woche dafür ausreichen werden; es wird für Einzelne nicht mehr nötig sein, fünf Zeitungen und sechs Internetportale zu verfolgen.

Demokratiepflege wird so selbstverständlich wie Körperpflege.

 

2

Anders als Bürgerinitiativen treten die Bürgerräte nicht für Interessen ein, sondern recherchieren, klären auf, geben Rückmeldungen, kritisieren, stellen Fragen und entwickeln Ideen. Sie behaupten nicht: „Wir sind das Volk“, sondern bemerken bloß: „Wir haben da noch eine Frage“.

 

3

Der Journalismus wird der professionelle Erheber von Information bleiben. Aber Politik, Recht, Rundfunk, Verwaltung und Wirtschaft werden sich ganz anders der Öffentlichkeit stellen müssen, wenn wir Bürger an der Öffentlichkeit mitwirken statt sie wie bisher an den Journalismus zu delegieren.

Stellen wir uns doch einmal vor, es gäbe starke, in der Medienöffentlichkeit unüberhörbare Bürgerräte. Dann hätte es einen Aussagewert, wenn Spitzenpolitiker sich Interviews mit Räten verweigern würden. – Diese Interviews könnten ausführlich, eingehend, und sachlich ohne Rücksichten geführt werden – im Gegensatz zu den Rücksichten, die Journalisten ihrer Chefredaktion und den Formaten ihres Mediums gegenüber nehmen müssen.

Bei den Interviews des Öffentlich-Rechtlichen Rundfunks ist es frappierend, welche Fragen nicht gestellt werden. (Link zu einem Beispiel dafür: hart aber fair – meine Fragen an den Moderator.) – Stattdessen gibt es Talk-Shows, die schon vom Format her verhindern, daß Politikern „auf den Zahn“ gefühlt werden kann.

Auch in der Presse gibt es zuwenig Interviews und sie sind begrenzt und abgeschlossen. Das bedeutet: es geht über Statements und Schlagabtausche meist nicht hinaus. Es sind eher Bestandsaufnahmen als Argumentationen. – Schlimmer ist noch:

Der Journalismus unterliegt den Gesetzmäßigkeiten des Medienrummels: Er muß die Themen bedienen, die Aufmerksamkeit versprechen. Deshalb haken die Medien zu wenig nach und bleiben nicht dran an den Themen. Die Strategie der Politiker, unbequeme Themen „auszusitzen“ und darauf zu warten, daß der Medienrummel sich verflüchtigt, werden die Bürgerräte unmöglich machen. Sie werden am Ende jedes Interviews die offenen Fragen dokumentieren und die Politiker zu themenbezogenen Folgeinterviews einladen. In den Folgeinterviews bringen die Räte dann neue Recherchen ein und können die Politiker fragen, was sie selbst zur Beantwortung der Fragen mitgebracht haben oder beitragen wollen – oder aus welchen Gründen sie nichts mitgebracht haben oder beitragen wollen… – Und jede Dokumentation wird – wie Wikipedia – nur ein Klick weit entfernt sein…

 

4

Die Bürgerräte werden eine starke politische Kultur schaffen, in der sie ständig aus Interaktionen neu entstehen. Ihr Bestand besteht höchstens in den Kompetenzen und Erfahrungen der Teilnehmenden. – Sie sind nicht angewiesen auf Verwaltung und Verdienen von Geld, sie haben kein Konto und keine Zentrale. Das macht sie freier.

Journalismus und Nicht-Regierungs-Organisationen brauchen geschäftlichen Erfolg um ihren Bestand zu erhalten. Sie müssen Manches machen oder unterlassen, um ihren Bestand zu sichern. – Was ständig neu entsteht, muß nicht für seinen Bestand sorgen. Die Bürgerräte halten keine Spendenhand auf, sie haben kein Büro und kein Inventar und es gibt keine hauptberuflichen Funktionäre, es gibt niemanden, der davon lebt.

 

5

Die Räte werden Orte der Kultivierung „herrschaftsfreien Diskurses“ sein. – Herrschaftsfreiheit ist ein regulatives Ideal, das unerreichbar ist, aber einen Kurs vorgibt. Es bedeutet: niemandem werden Redebeiträge verwehrt und niemand wird wegen seiner Beiträge bewertet, belohnt, bestraft oder ausgeschlossen. Hier darf jeder mit seinen Gefühlen und Vorurteilen ankommen.

Wir Menschen brauchen einander, um den Kontakt zur Realität nicht zu verlieren, und je mehr mitdiskutieren, je weniger Chance haben Illusionen. Und egal wie idiotisch eine Befürchtung, ein Einwand oder eine Idee klingt: wir wissen nie, was darin an Wahrem und Brauchbaren liegt. Das persönliche Befinden darf hier keine Ansprüche stellen bezüglich dessen, was gesagt werden darf und was nicht. Egal wie laut jemand schreit oder wie beleidigt und empört er sich fühlt: In den Bürgerräten darf alles gesagt werden und es zählt nur das bessere Argument.

 

6

Der Satz: „Das bringt doch nix“ wird hier blödsinnig sein. Wir werden eine neue Einstellung zur Zeit entwickeln: Erfolg wird definiert: als bestmögliche Erledigung der aktuellen Aufgaben, einerlei, ob wir in absehbarer Zeit damit meßbare Erfolge haben. – Bürgerräte schaffen Klarheit und Bewußtsein in der Öffentlichkeit. Das wirkt früher oder später immer.

 

7
Es gilt das Entbehrlichkeitsprinzip: Möglichst viele von uns sollen hinreichend qualifiziert sein, um Diskussionen zu leiten, Streit zu schlichten, Interviews zu führen, Ideen und Anliegen zu vertreten usw. –

Das Entbehrlichkeitsprinzip wird verhindern, daß Einzelne zu dominant werden. Möglichst viele sollen möglichst viel können. Wir unterrichten und trainieren uns gegenseitig in den Fähigkeiten, die notwendig sind. – Das kann und soll nicht verhindern, daß Begabtere und Tüchtigere häufiger bei wichtigeren Gelegenheiten anspruchsvollere Aufgaben übernehmen (wie z.B. Auftreten in einer anspruchsvollen Talkshow). Doch es kann erschweren, daß Ehrgeizige eine Bedeutung an sich reißen, die ihnen der Sache nach nicht zukommt.

Bei uns steigt niemand als „Fußvolk“ ein und rückt nach Fähigkeit und Bewährung auf.

 

8

Ungewohnt für unsere Zeit wird vor allem sein: anderen wertschätzend zu begegnen, mit Neugier und Vorfreude auf ihre Potentiale. Statt ständig auf der Lauer zu liegen, ob sie überall die richtige Einstellung haben.

Neu wird auch sein, Leute, die die falsche Einstellung zu irgendwas haben,  nicht gleich die Wertschätzung zu entziehen.

 

9

Wir unterstellen keine Intentionen und fällen keine moralischen Urteile. Es wird davon ausgegangen, daß Fehler und Fehlentwicklungen kein moralisches Versagen sind sondern Ausdruck von Umständen, selbstverstärkenden Prozessen und „blinden Spiegeln“: defizitären Korrektiven.

Wir werden den Feind immer in Umständen sehen, nie in Menschen.

Die Anliegen, die alle Menschen teilen, sind größer als die, die sie trennen. Wir werden lernen, die gemeinsamen Anliegen herauszuarbeiten, für die es sich lohnt, Kriegsbeile zu begraben und zusammenzuarbeiten.

 

10

Über all unseren Aktivitäten wird der Satz prangen: „Finde heraus, was dagegen spricht, daß Du Recht hast!“

Bei den Bürgerräten treffen sich nicht Leute, die Gleichgesinnte suchen oder überzeugen wollen, sondern Leute, die sich in Frage stellen wollen, die neugierig darauf sind, wie man die Sachen sonst noch sehen kann, und neugierig auf die Selbsterfahrung, die entsteht, wenn wir uns mal vorstellen, unsere Überzeugungen seien falsch.

Was wäre denn z.B., wenn die Politiker gar nicht in dem Ausmaß Handlanger der Lobbys wären, wie ich glaube? Was macht mich denn so geneigt, an meine Einschätzung zu glauben? Und was bewegt mich dazu, eine andere Auffassung für unzureichend zu halten und abzulehnen?

 

11

Wichtigste Bedingung ist: Die Arbeit wird so dosiert und verteilt, daß das bürgerliche Leben darunter nicht leidet, weder die Kinder, die Partnerschaft, die Erholung, die Interessen oder der Beruf. Die Räte dürfen so langsam sein, wie sie wollen. Niemand muß Angst haben, „sich eine Verpflichtung ans Bein zu binden“. Stressmacher sind unerwünscht.

 

12

Wieso ist aus den vielen engagierten Projekten von Mitbürgern bisher noch kein Bürgerrat entstanden? – Möglicherweise: Weil sie ein Anliegen haben und eine Botschaft – statt ergebnisoffen zu sein. – Weil man zu viel glauben muß. – Weil sie eher Gegnerschaft unterstellen als Kooperationsbereitschaft. – Weil zu viel Empörung im Spiel ist. – Weil sie Spenden akzeptieren (Spenden sind Delegationen!) – Weil sie sich nicht nur um die Sache sondern auch um den eigenen Bestand sorgen müssen. – Weil sie geschlossen sind: schreibt man hin, kriegt man meist keine Antwort.

Die Bürgerräte wollen kein Publikum, sondern diskutieren. Sie haben keine Ziele und Botschaften, sondern Fragen. Sie wollen nichts erreichen sondern was erkennen. Sie wollen keine Erfolge, sondern Antworten.

Ihre Chance, groß zu werden, liegt im Prinzip der „klugen Konvergenz“: Man tut sich zusammen, um zu recherchieren und Hypothesen zu entwickeln. Erreicht man auch nicht, gehört zu werden, wird man doch wenigstens klüger. Im Weg liegt schon genug Ziel.

 

13

Wie die Arbeit der Bürgerräte konkret aussehen soll? Wie extrem unterschiedlich eingestellte Bürger sich vertragen können sollen? Ob da nicht bloß linke oder rechte Echokammern entstehen, in denen Radikale die Führung an sich reißen? Ob da jemals was Gescheites oder Glaubwürdiges draus entstehen kann? Daß die Probleme unabsehbar sind und unlösbar erscheinen? – Alles richtige Fragen und Einwände. Aber was spricht dagegen, daß sich einfach mal ein paar Leute zusammensetzen und mit irgendwas anfangen? Ohne großen Anspruch, ohne großen Aufwand, einfach nur mal probeweise ein paar Schritte dranbleiben an der Beschäftigung mit einer gemeinsamen Frage und unter der Maxime: „was können wir dafür tun, herauszufinden, ob wir Unrecht haben“…

Überall wo zwei zusammen sind, die reden oder schreiben können, kann jederzeit die Keimzelle eines Bürgerrates entstehen.

 

FAQ

(1)

Politische Diskussionen sind meist ergebnislos. Wie wollen die Bürgerräte verhindern, daß das bei ihnen genauso ist?

Antwort:

Weil wir uns nicht treffen, um irgendjemanden von irgendwas zu überzeugen, sondern um die verschiedenen Erfahrungen und Informationen zu sammeln und gemeinsam auszuwerten, mit dem Ziel weiterführende Fragen stellen zu können.

Daß die politischen Diskussionen im Alltag nicht auf Erkenntnisgewinn aus sind, zeigt sich schon daran, daß die Diskussion nicht – wie bei den Räten – mit Recherche- und Denkaufgaben beendet wird, über deren Ergebnisse dann zu einem späteren Zeitpunkt weiterdiskutiert wird.

Unter dem Vorzeichen kooperativer Wahrheitssuche und dem Vorsatz wiederholer Arbeitstreffen gibt es völlig andere Diskussionen als auf Parties oder beim Frühschoppen.

(2)

Daß das Vorhaben gelingt, ist doch unrealistisch. Wieso sollte man sich für etwas Unrealistisches engagieren?

Antwort:

Ohne Versuch und Irrtum keine Entwicklung. Wir müssen uns fragen, welches Quantum von Tun des Unrealistischen notwendig ist, wenn wir nicht von den Problemen des Verharrens überrollt werden wollen. – Wir müssen astronautisch denken! Astronauten, die in Notsituationen realistisch denken, sind verloren. Es überleben nur die, die sagen: „Egal wie aberwitzig das ist, das probieren wir jetzt mal aus“. (Nachzulesen im Buch: Der Marsianer von Andy Weir. (Im Buch! Im Film kommt das nicht deutlich genug zum Ausdruck.)

Daß es unrealistisch sei, ist nur eine Einschätzung! – Ich habe immer wieder erlebt, daß die, die sich für Realisten hielten, die Mutlosesten und Bequemsten waren. – Es ist unrealistisch, etwas für unrealistisch zu halten.

(3)

Wenn wir wirklich einen Platz neben Wikipedia hätten: Würden dann nicht politische Parteien versuchen, uns zu unterwandern? Wie sollte das verhindert werden können?

Antwort:

Es ist nicht sinnvoll, sich jetzt den Kopf schon darüber zu zerbrechen. Weil es auf jeden Fall bereits lohnend ist, sich auf den Weg zu machen, sollten wir uns nicht abhalten lassen von Spekulationen darüber, was am Ziel für Gefahren lauern. Zumal wir auf dem Weg Arbeitsweisen entwickeln werden, die wir noch gar nicht wissen und die möglicherweise Immunisierungspotential gegen Vereinnahmung besitzen.

(4)

Wird es nicht endlosen Streit geben, welche Fragen dann am Ende Politik und Institutionen gestellt werden? Wer soll da entscheiden? Eine Redaktion? Wird es dann nicht doch wieder Institutionalisierung geben müssen, um die Schlußredaktion zu wählen oder zusammenzustellen?

Antwort:

Es wird „Minderheitenfragen“ geben. Und aus denen können dann die Leute, die bei uns mitmachen, aber auch die Leute, die uns lesen, Fragen aussuchen, per Wahl, so daß nicht nur ein Redakteursgremium allein die am Ende gestellten Fragen aussucht.

(5)

Wenn eine Talkshow jemanden von uns einlädt: Wird es dann nicht endlosen Streit geben, wer hingehen darf?

Antwort:

Da müßten dann möglichst viele ausgewählt werden, die talkshowtauglich sind und Expertise haben, und dann kann per Los bestimmt werden und die Losauswahl könnte noch mal diskutiert werden. Und jeder, der ausgewählt wurde, steht beim nächsten Mal nicht mehr zu Wahl, solange, bis alle, die können und wollen dran gewesen sind.

(6)

Wahrscheinlich werden es doch gerade die Unbesonnenen sein, die in die Räte drängen. Denn das stärkste Interesse daran, nicht ignoriert zu werden, haben diejenigen, die am lautesten schreien, die am stärksten von Wut und Haß bewegt sind.

Antwort:

Dagegen hilft nur: Geduldig immer wieder die Frage stellen: „Was hast Du dafür getan, herauszufinden, was dagegen spricht, daß Du recht hast?“ – Die echten Bürgerräte werden daran zu erkennen sein, daß sie Fasifikationsdokumentationen vorweisen sowie Diskussionen von Minderheitenvoten, aber vor allem: daran, daß sie Ärger und Ängste zu Fragen formen statt zu Behauptungen.

Das sind nur spontane Ideen zu Fragen, die sich stellen. Aber wie gesagt: auf dem Weg werden wir wahrscheinlich noch ganz andere Möglichkeiten der Problemlösung finden – genauso allerdings, wie noch ganz andere Probleme….

Die „Ideen“ werden fortgesetzt, nicht rasch aber stetig…

 

 

Rassismusvorwürfe

Was Sie tun können, wenn Ihnen jemand Rassismus vorwirft, obwohl Sie glauben, nicht rassistisch zu sein.

Was Sie wissen sollten:

(1) Rassismusvorwürfe haben fast immer recht. Menschen neigen zu Rassismus, immer schon und überall – und in Deutschland erst recht, das Rassistische unserer Kulturgeschichte ist noch nicht rausgewachsen, das steckt uns allen noch im Hirn.

(2) Rassistisch ist alles, was rassistisch ist, unabhängig davon, ob es rassistisch gemeint war.

Was Sie tun können:

(1) Machen Sie sich klar: Sie wurden bloß darauf aufmerksam gemacht, daß Ihnen etwas Rassistisches unterlaufen ist. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Unterstellen Sie nicht, daß da jemand sie anfeinden, abwerten, blamieren oder diskreditieren will.

(2) Wenn Sie das Selbstbild haben, nicht rassistisch zu sein, ändern Sie es in das Selbstbild, nicht rassistisch sein zu wollen. Schon bekommt der Hinweis einen anderen Charakter: er ist kein Vorwurf mehr sondern eine Rückmeldung darüber, daß Sie Ihr Ziel noch nicht erreicht haben. – Und ein Hinweis, wie Sie ein Stück weiter kommen.

(3) Entschuldigen Sie sich.

(4) Fragen Sie nach, was genau rassistisch war und lassen Sie sich erklären, wieso.

(5) Wenn Zeit genug ist, kommen Sie mit dem*der Vorwerfenden ins Gespräch über die Wirkung von Rassismus, darüber, wie es sich anfühlt, täglich mehrfach rassistische Äußerungen anhören zu müssen oder gar offene Aggression zu erleben, sei es auch „nur“ verbal.

(6) Sagen Sie etwas wie: „Ich finde es gut, daß Sie mich darauf aufmerksam gemacht haben!“

Wie relevant ist der Rassismus in der Sprache?

1

Als Kind habe ich noch die abschätzigen kolonialistischen Untertöne gehört, mit denen manche der Worte, die nicht-europäische Menschen bezeichneten, gebraucht wurden. – Aber daß jetzt immer mehr Worte diskriminierend sein sollen außer „people of color“, leuchtet mir nicht ein. Das wirkt auf mich konstruiert wie eine Anstandsregel. – Ich sage: Es wirkt auf mich so. Das muß ja nichts heißen, vielleicht habe ich irgendwas nicht mitgekriegt.

Nettigkeit und Respekt sind etwas anderes als Anstand. Sie ergeben sich bei kooperativen, solidarischen und wertschätzenden Menschen von selbst, aus der Logik der Beziehung zwischen Menschen. Deshalb fällt es mir schwer, nachzuvollziehen, warum so ein Wert auf die Form gelegt wird. Ich würde mir wünschen, daß es maßgeblich ist, wie sich Menschen  verhalten, nicht, wie sie reden.

 

2

Ich halte die Einstellung, daß Menschen kein bisschen falsche Einstellung haben dürfen, für unrealistisch und intolerant. Schlimm sind falsche Einstellungen doch nur, wenn sie mit Unkorrigierbarkeit einhergehen. Worauf es ankommt sind doch die Bereitschaften, zuzuhören, sich zu hinterfragen und sich solidarisch zu verhalten, nicht der aktuelle Stand aller eigenen Einstellungen zu allen möglichen Aspekten der menschlichen Angelegenheiten.

Und die Einschätzung, daß der Rassismus in den Köpfen noch ganz schlimm sei, halte ich für eine Illusion der Desillusioniertheit. – Pessimismus hat immer recht: Wer die Angemessenheit einer Sicherheitsvorkehrung anzweifelt, gilt als leichtsinnig. Wer eine pessimistische Einschätzung anzweifelt, gilt als Träumer. „Zirkelschluß“ nennt die Logik das Phänomen: „Wer sich wirklich ernsthaft sorgt, schätzt die Sache so ein, wie ich. Wer an meiner Einschätzung zweifelt, sorgt sich nicht ernsthaft genug oder ist naiv und macht sich Illusionen!“ Daraus erwächst dann der Schluß: „Realistisch ist, die Sache so einzuschätzen, wie ich. Daraus folgt: Wer an meiner Einschätzung zweifelt, ist unrealistisch!“

Ist es wirklich so unrealistisch, davon auszugehen, daß der Restrassismus der meisten Menschen in Deutschland weitgehend unproblematisch ist, weil er verschwinden würde, sobald die Menschen verschiedener Hautfarbe mehr miteinander zu tun hätten? – Genau genommen müßten wir hier empirische Befunde diskutieren, über das Ausmaß der Bereitschaft in der Bevölkerung, Reste rassistischer Vorstellungen oder gar rassistischen Verhaltens zu hinterfragen und zu verändern. Aber soweit ich sehe, gibt es solche Befunde nicht.

Meist erwächst Diskriminierung aus kollektiven Gegebenheiten, nicht aus der Willkür einzelner Menschen. Wieviele Eltern würden ihren Mädchen etwas anderes anbieten, als traditionelle Mädchenklischees, wenn sie nur genügend Austausch mit Eltern hätten, die weniger beschränkte Vorstellungen haben! – Und daß es zuwenig Schauspielrollen für „people of color“ gibt – liegt das an einzelnen Menschen? Vielleicht würde eine Produzentin sagen: „Finde ich ja auch blöde, aber wir trauen uns nicht, mutig zu sein, sonst sind wir auf dem Aufmerksamkeitsmarkt ganz schnell weg vom Fenster! – Und ich habe Verantwortung für die Firma!“

Daß es schlimm ist, wie Mädchen immer noch um ihr Leben betrogen werden durch frühe Ausrichtung auf beschränkte, konventionelle Vorstellungen von Mädchenhaftigkeit, und daß Menschen anderer Hautfarbe immer noch benachteiligt werden in vielen Lebensbereichen: daß das schlimm ist, und daß die Bewegung dagegen zu den vordringlichsten und wichtigsten Aufgaben unserer Zeit gehört – das ist doch gar keine Frage!

Aber es ist eine uralte Weisheit, daß die Einzelnen reifer und klüger sind als das Kollektiv. Und wer das verkennt und, statt bestehende Bereitschaften zu nutzen, sich abmüht, offene Türen einzurennen, vertut Zeit und Energie. – Zudem: Soviel auch noch zu tun bleibt, es ist doch schon viel im Gange gegen Diskriminierung und Rassismus! Ob der Prozeß der Zivilisation wirklich durch Sprachregelungen beschleunigt werden kann, halte ich für zweifelhaft.

Jedenfalls halte ich es nicht für konstruktiv, mühsam die letzten Überbleibsel von Rassismus bei andern herauszupopeln. Und ich bezweifle ernsthaft, ob das wirklich im Sinne der Diskriminierten ist.

Was spricht dagegen, sich mit sprachlichen Irritationen nicht aufzuhalten, sondern alle Energie und Aufmerksamkeit auf die Veränderung der Fakten zu richten?

 

(Weiterlesen: Über Genderneutrale Sprache (Link auf meine Internetseite zu Goethes Faust).

 

 

 

Verantwortungsethik

Der verpflichtende Bezugspunkt

„Toll ist das jetzt nicht, aber es gibt keine bessere Alternative“ – mit so einem Spruch wird man Verantwortung nicht gerecht. – Zwei Beispiele: Ein Herumschrauben an Statistiken, um eine wegen der Quote nötig gewordene Trivialisierung des Fernsehprogramms zu verschleiern, ist nur dann legitim, wenn untersucht wird, wieso man noch auf keinem anderen Wege hingekriegt hat, das Programm attraktiv zu machen. – Ein Militäreinsatz, um eine Bevölkerung vor einer Terrorgruppe zu schützen, ist erst legitim, wenn untersucht wird, wie es zu dem Terror kommen konnte und was getan werden kann, um der Aggression den Wind aus den Segeln zu nehmen. – Ohne solche „Bezugspunkte“ und die Selbstverpflichtung, ihnen gerecht zu werden, wird der Dienst an der guten Sache alles nur noch schlimmer machen.

Wenn ich ein Kabel aus einem Kabelgewirr ziehe, werden die Knoten fester, wenn ich nicht gleichzeitig an anderen Kabeln herumnestle. – Verantwortungsethik fordert: Symptombehandlung nie ohne Ursachenbehandlung.

Allerdings: Bevor die Frage nach dem Bezugspunkt gestellt wird, muß erst nach der Indiziertheit und Angemessenheit des geplanten Handelns gefragt werden. So kann man beispielsweise nicht sinnvoll nach verantwortungsethischen Begründungen für den „Krieg gegen den Terror“ suchen, ohne folgende Fragen beantwortet zu haben: Wurde, bevor die Maßnahmen beschlossen wurden, hinreichend geklärt, wie gefährlich der Terrorismus gemessen an anderen Lebensrisiken ist und ob der Aufwand und die ethisch problematischen Maßnahmen im angemessenen Verhältnis zur Gefahr stehen?

Die Frage nach verantworungsethischer Legitimierbarkeit einer Handlung sollte immer der zweite Schritt sein, sonst läuft man Gefahr, das Sieb drunter zu halten, wo der Bock gemolken wird!

Autokratie: die Alternative für Dummies

Verächtlich reden Autokraten von Demokratien als „Verunmöglichern“ („Impossibilismus“), weil in Demokratien zu viele Rücksichten genommen werden. – Und eine Autokratie wie China wird wegen unabsehbarer Erfolge bewundert. – Doch die Fragen, die an Autokratien zu stellen sind, sind nicht: Was machen sie möglich, sondern: was richten sie dadurch an – und was entgeht ihnen? – Und nicht: Wie sind sie? Sondern: Wie werden sie sein?

Auf wessen Kosten ermöglichen Autokratien, was Demokratien erschweren? Auf Kosten von Minderheiten oder Bündnisgenossen und auf Kosten der Korrektive und der Zukunft? – Und wenn sie heute so glänzend dastehen: wo stehen sie übermorgen?

Autokratien und Günstlingswirtschaft gehen Hand in Hand. – Günstlinge reden ihren Herren nach dem Munde. Unangenehme Worte werden bestraft, bestenfalls mit Karriereknick, schlimmstenfalls mit Kerker. Die fehlende Realitätsprüfung macht Autokraten mehr und mehr zu Phantasten. Bestenfalls gerät ihr Land nur ins Hintertreffen, schlimmstenfalls zieht es die halbe Welt mit eine Katastrophe, wie Hitlerdeutschland.

Der Starke ist am dämlichsten allein. Darin besteht die Aporie der Autokratie: So an sich zu glauben, wie es nötig ist, um Autokrat zu sein, macht zum Autokraten untauglich.

Zitat von Minxin Pei, Professor für Politikwissenschaften, aus dem „Tagesspiegel“ über den amtieren Autokraten Chinas:

„Da Xi die politische Macht in seinen Händen konzentriert hat, hat sich die Art der Entscheidungsfindung geändert. Wer die Politik beeinflussen will, muß sich nun Zugang zu Xi selbst verschaffen und wird daher dazu neigen, nur Informationen zu liefern, die ihm gefallen. Xis Intertoleranz gegenüber Abweichungen und seine Empfindlichkeit gegenüber Hiobsbotschaften haben seine Regierung viel anfälliger für politische Fehlentscheidungen gemacht. Schlimmer noch: da ein starker Mann das Image weitgehender Unfehlbarkeit aufrechterhalten muß, werden sogar manche offensichtlich ineffektive und kontraproduktive Maßnahmen nicht rückgängig gemacht.“

(Minxin Pei, „Quittung für den Alleinherrscher“ in: Tagesspiegel, 22.12.2019)

(Der Beitrag war ursprünglich ein Kommentar zum Artikel „Die Sehnsucht nach dem starken Mann“ in „Der Spiegel“, Nr. 24 / 9.6.18)

 

Soziale Intelligenz

Aus dem fiktiven Interview: „Die Weltformel„:

„Kennen Sie den Satz, den Brecht seinem Galilei in den Mund legt: „Traurig ein Land, das Helden nötig hat“? Ich habe eine eigene Lesart dieses Diktums. Sehen Sie, ob Wissenschaft, Kunst oder Handwerk: eine Disziplin ist doch erst dann hoch entwickelt, wenn man nicht mehr überdurchschnittlich sein muß, um darin etwas Verläßliches zu leisten, wenn auch ganz durchschnittliche Menschen darin Meister werden können. An eine Kultur stelle ich den gleichen Anspruch: Eine Kultur ist erst in dem Maße hochentwickelt, wie es keiner besonderen Anstrengung mehr bedarf, moralisch zu handeln. „Soziale Intelligenz“ heißt, daß man in jeder Situation schnell erkennen kann, wie sehr eine Verletzung der Gebote von Solidarität und Kooperation Implikationen eigener Intentionen widerspricht und daß man so geübt darin ist, den eigenen Antrieben einen Weg zu finden, der mit Solidarität und Kooperation vereinbar ist, daß man einfach nicht mehr darauf angewiesen ist, sie auf Kosten von anderen Menschen auszuleben. – Genauso, wie man heute kein Genie wie Bacon oder Boyle mehr sein muß, um naturwissenschaftlich zu denken, wird man irgendwann kein Heiliger mehr sein müssen, um moralisch zu handeln, weil soziale Intelligenz genauso selbstverständlich geworden ist, wie heute die naturwissenschaftliche Intelligenz, die die Kinder bei uns schon mit dem bloßen Heranwachsen üben“.

Aus Lars Lehmann: „Die Revolte„:

„Ihre Zivilisation hat ein Problem: Sie kann schlecht verzichten! Selbst für Menschen, denen es gut geht, fühlt sich Verzicht oft so unzumutbar an, daß sie glauben, ruhig etwas Unrechtes oder Schädliches tun zu dürfen, um nicht verzichten zu müssen. Anstatt die Bestände ihres Lebens auf ungenutzte Möglichkeiten zu sichten, werden sie aggressiv gegen Menschen oder Umwelt, um sich neue Bestände einzuverleiben. Die Menschheit ist noch auf der Kulturstufe, daß sie zwanghaft jeden Schatz heben muß, egal was dadurch angerichtet wird. Eine hochstehende Zivilisation kann die versunkenen Schätze im See lassen. Auf Euren entgeisterten Hinweis: „Aber da ist doch ein Schatz drin!“ würde sie achselzuckend sagen: „Na und?“ – Ihre Zivilisation hat noch nicht gelernt, die Frage zu stellen: „Auf was muß ich verzichten, wenn ich nicht verzichte!“ – Ihre Kultur ist zu einer Techniker-Kultur geworden. Aber was ist schon die Frage: „Wie kann ich das schaffen?“ gegen die Frage: „Wozu?“ Was hilft es, immer besser Probleme lösen zu können, wenn man immer weniger erkennt, was sich überhaupt lohnt, zum Problem zu machen?
Es wird bei der Reorganisation der Welt darum gehen, daß die Akteure erkennen, worauf sie verzichten können, ohne daß das Wesentliche ihrer berechtigten Ziele gefährdet ist. Ihr Blick ist auf die Perspektive fixiert, aus der sie ihr Ziel sehen, sie erkennen nicht, daß das gleiche Ziel aus einer anderen Perspektive eine völlig andere Gestalt annehmen kann. Nehmen Sie folgendes Beispiel: Da möchte jemand an einem Sommerabend auf seinem Balkon grillen. Nun weiß er, er belästigt damit die Nachbarn. Eigentlich könnte er auch ganz gut ohne Grill den Abend genießen. Doch dann denkt er: „Wer wäre ich eigentlich und was bliebe von meinem Leben übrig, wenn ich immer Rücksicht nähme!“ Er glaubt, durch eine gewisse Rücksichtslosigkeit erreicht er seine Ziele besser. Durch Verzicht sieht er Stolz, Autonomie und Lebensqualität gefährdet. Ein gutes Verhältnis zu den Nachbarn macht auf eine ganz andere Weise stolz und autonom und verbessert die Lebensqualität. Doch das sieht er nicht. – Akteure mit Unwillen zu Verzicht sind wie jemand, der glaubt: Wasser ätzt, und er schlägt einen Steg über einen seichten Fluß, statt einfach hindurch zu waten. – Allerdings: Um auf Möglichkeiten zu verzichten, muß man genau wissen, wozu. Beschränkte Menschen sind alternativlos, die wissen das nicht.“  –

Die ganze Geschichte können Sie runterladen unter: https://www.goethesfaust.com/download/